Kritik der Wirtschaft an Scholz Nehmen Sie die Klagen der Wirtschaft endlich ernst, Herr Kanzler!

Frustriert von Olaf Scholz: BDI-Chef Siegfried Russwurm (l.) wirft der Ampel

Deutschlands Wachstumsaussichten sind mies, doch Olaf Scholz kanzlert die Wirtschaft mit ihren Sorgen leichtfertig ab. Ein kohärenter Kurs der Koalition ist nicht in Sicht. Das ist fatal für den Standort. Ein Kommentar.

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Der Termin am Montagnachmittag um 10 Uhr ist ganz nach dem Geschmack von Olaf Scholz: Spatenstich für Eli Lilly im rheinland-pfälzischen Alzey, der US-Pharmakonzern investiert dort nahe Mainz 2,3 Milliarden Euro in ein neues Hightech-Werk – und für diese Ansiedlung müssen noch nicht einmal Subventionen fließen. Also alles bestens am Standort Deutschland?

Ganz sicher nicht. Im Gegenteil.

Die Unzufriedenheit in der deutschen Wirtschaft wird immer größer, diese Woche konnte BDI-Chef Siegfried Russwurm nicht mehr an sich halten. „Es waren zwei verlorene Jahre“, kritisiert er die Ampel-Koalition im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. „Der Vertrauensverlust der Politik bei den Unternehmen ist enorm“, warnt auch DIHK-Präsident Peter Adrian.

Ignorant und arrogant 

Hinter den Kulissen fallen die Worte drastischer aus: Nicht nur ignorant, sondern auch arrogant verhalte sich der Regierungschef gegenüber der Wirtschaft – was in einem seiner Lieblingssätze besonders deutlich wird: „Das Geschäft des Kaufmanns ist die Klage.“ Wie bitte?

Genau so hat Scholz tatsächlich geantwortet, als er im Interview mit der WirtschaftsWoche und dem „Tagesspiegel“ auf der Konferenz „Europe 2024“ zu den Sorgen der Unternehmerinnen und Unternehmer gefragt wurde. Was nach altem Hamburger Schnack klingen soll, wirkt angesichts der heutigen Entwicklung wie eine Unverschämtheit.

Ein Mini-Wachstum von 0,1 Prozent in 2024 – das ist für die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt nicht nur eine „peinliche“ (Finanzminister Christian Lindner) und „dramatische“ (Wirtschaftsminister Robert Habeck), sondern eine fatale Prognose. Noch vor einem Jahr hatte Scholz ein grünes Wirtschaftswunder mit Wachstumsraten wie in den 50er- und 60er-Jahren versprochen, am Jahresende ging Deutschland mit einer roten Laterne durchs Ziel: Die Wirtschaft schrumpfte um 0,3 Prozent, so schlecht schnitt 2023 kein anderes großes Industrieland ab.

Steuerbelastungen in Rekordhöhe, Fachkräftemangel, anhaltend hohe Energiepreise und eine Bürokratie, die durch absurde Pläne wie von der grünen Familienministerin Lisa Paus und ihren 5000 neuen Verwaltungsstellen für die Kindergrundsicherung eher noch wachsen statt schrumpfen soll. 

Deutschland auf der Zuschauerbank 

Dazu ist das Digitalisierungsdesaster inzwischen so groß, dass es ernsthaft als Erfolg gefeiert wird, wenn Arbeitsverträge künftig nicht mehr nur in Papierform abgeschlossen werden können. Die Amerikaner und Chinesen lachen sich über dieses Tempo schlapp, während sie um die Dominanz in der Künstlichen Intelligenz (KI) konkurrieren. Deutschland? Wird bei vielen Schlüsseltechnologien zunehmend auf die Zuschauerbank verdrängt.

Und das alles soll nicht mehr als eine „Klage“ sein? Nein, Deutschland hat tiefgreifende strukturelle Probleme – doch die Koalition hat darauf keine Antworten. Zwar kommen die Wirtschaftsverbände kaum noch hinterher angesichts der Ideen für eine „Wirtschaftswende“, die von Parteien, Fraktionen und Ministerien derzeit in zahlreichen Papierchen verfasst werden. Doch eine gemeinsame Idee für einen wirtschaftspolitischen Kurs gibt es nicht – auch, weil der Kanzler seine Koalition in dieser entscheidenden Frage für die Zukunft des Standorts offensichtlich nicht zusammenzubringen weiß.

Geringe Erwartungen ans Gipfeltreffen

Ob sich das am Mittwoch ändert? Dann findet um 12 Uhr im Berliner Haus der Deutschen Wirtschaft ein länger anberaumtes Treffen zwischen den vier Spitzenverbänden BDI, BDA, DIHK und ZDH mit dem Kanzler statt. Schon Ende Januar hatten sie Scholz in einem Brandbrief ihre „große Sorge um unser Land“ geschildert und dringend Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit angemahnt – doch bei dem jüngsten Treffen auf der Münchner Handwerksmesse soll der Kanzler auf keinen ihrer zehn Punkte eingegangen sein.

Die Klage ist des Kaufmanns Lied? Diesen Satz sollte sich Scholz am Mittwoch nicht nur verkneifen, sondern er sollte vor allem eins tun: die Klagen endlich ernst nehmen – und mit seiner Regierung eine kohärente wirtschaftspolitische Strategie aufsetzen, um die Zukunftsfähigkeit des Standorts nicht länger zu riskieren.

„Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht“

In der Wirtschaft geht jedoch die Sorge um, dass eine leichte konjunkturelle Erholung Richtung Sommer vom Kanzler als Erfolg seiner Wirtschaftspolitik interpretiert werden dürfte – und weitreichendere Reformen nicht angegangen werden. „Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht“, erklärte er im Interview mit WirtschaftsWoche und „Tagesspiegel“ überzeugt.

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Die Erwartungen an das gemeinsame Treffen am Mittwoch, so ist aus der Wirtschaft zu hören, sind jedenfalls gering – sollte es bei Beschwichtigungen durch Scholz bleiben, wäre das kein gutes Signal für den Aufbruch, den Deutschland so dringend braucht.

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