Diplomatie
Quelle: dpa Picture-Alliance

Wie viel Platz haben Werte und Moral in der Außenpolitik?

So viel Realitätssinn wie möglich, so viel Moral wie nötig – oder umgekehrt? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Dabei sind wertegeleitete und interessenbasierte Außenpolitik längst ein und dasselbe. Eine Kolumne.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Markus Söder hat zuletzt China bereist. Präziser ausgedrückt: Ein politisches Kind hat den allerniedlichsten Bildern seiner China-Fantasien eine Stippvisite abgestattet, um sie sich von der Realität bestätigen zu lassen. Pandas sind wirklich süß, knuffig, friedlich. Die Chinesische Mauer ist tatsächlich beeindruckend (auch im Nebel). Und eine traditionell zubereitete Pekingente zurecht berühmt. So viel vom Weltenbummler Markus: Insta-Grüße in die Heimat!

Aber Söder war natürlich nicht nur zum Vergnügen in China, sondern auch in seiner Funktion als bayerischer Ministerpräsident, um sich von China überzeugen zu lassen, dass es seinen fröhlich gestimmten Wünschen und Vorstellungen entspricht.

Mag sein, dass es dieses Land nicht (mehr) gibt, seit Generalsekretär Xi Jinping es regiert, aber sei’s drum, man darf sich ja wohl eine kleine Zeitreise gönnen und in das „deutsche China“ der seligen Gerhard-Schröder- und Angela-Merkel-Jahre reisen, also etwa eine Magnetschwebebahn besteigen, sich zwischen chinesische Kinder in Bayern-Trikots stellen, sich einen Doktorhut aufsetzen lassen.

Das alles ginge soeben hin, wenn Markus Söder es dabei belassen würde. Viele Chinesen haben sich schon damals amüsiert über deutsche Politikerinnen und Manager, die ihnen mit einer Mischung aus Herablassung, angelesener Baedeker-Faszination und gönnerhafter Anerkennung (dieser Ehrgeiz! dieser Aufstiegswille!) begegneten.

Markus Söder besichtigt bei Peking ein Stück der Chinesischen Mauer. Quelle: dpa

Das Land versicherte den Deutschen seine Dankbarkeit und Bewunderung, es charmierte ihren Ingenieursstolz und bat untertänigst um die Gunst technologischer Teilhabe. Es ließ sich scheinbar belehren von Demokraten und ehemaligen Kolonialisten, sogar zu Rechtsstaatsdialogen herab, es machte hoch seine Türen für Delegationen, die Tore weit für Unternehmen – und setzte sich lernend zum Ziel, den Lehrmeister möglichst alsbald zu bemeistern, ihn als ökonomischen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, ihm politisch die Stirn zu bieten, sich alle Zeigefingerei zu verbitten, ein für allemal.

Aber Söder belässt es nicht dabei. Er stellt nicht nur seine touristische Naivität bei Instagram aus und seine politische Naivität rein in den Dienst angeblicher wirtschaftlicher Primärinteressen. Er begnügt sich nicht damit, Stoffpandas zu knuddeln und sich von einer Kaderschmiede zum Ehrenprofessor küren zu lassen („Große Ehre“).

Bussi fürs Bärli: Söder posiert bei seinem Besuch des Chengdu Research Base of Giant Panda Breeding mit einem geschenkten Panda-Plüschbär. Quelle: dpa

Sondern er muss seinem Besuch auch noch das Odium einer staatsmännischen Verantwortungsethik verleihen, ihn als praktizierten Gegenentwurf zur „wertegeleiteten Außenpolitik“ der Ampelregierung inszenieren. Er habe „keine andere außenpolitische Auffassung als die Bundesregierung“, sagt Söder, wohl aber einen „eigenen Standpunkt“ – nur um anschließend klarzustellen, dass er keinen anderen Standpunkt vertritt als die Bundesregierung, wohl aber eine andere Auffassung. Er setzt auf „dauerhaften Dialog statt einmaligen Monolog“, sagt Söder und: „Wir machen Real- statt Moralpolitik.“

Und damit auch wirklich alle verstehen, was er von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock hält, schiebt er noch hinterher, das seine Signale dauernder Gesprächsbereitschaft Richtung China allemal besser seien, als sich „einmal gründlich die Meinung zu sagen und dann den Gesprächsdraht verbrannt zu haben“.

Das alles ist mindestens dreifach peinlich. Erstens blendet Söder mit seiner pandadiplomatischen Rolle rückwärts aus, dass China 2024 nicht viel gemein hat mit China 2004. Generalsekretär Xi hat die Freiheit Hongkongs erstickt, probt seit Jahren die gewaltsame Vereinnahmung Taiwans und bereitet sich mit einem forciertem De-Coupling akribisch auf mögliche Sanktionen des Westens vor; er ist mit Wladimir Putin persönlich und Russland als einem erklärten Feind Europas politisch „unverbrüchlich befreundet“ und hofiert selbstverständlich auch Mullahs und Taliban, die er speziell für ihren Antiamerikanismus schätzt.

Gute Realpolitik – schlechte Moralpolitik?

Zweitens verletzt Söder vorsätzlich den diplomatischen Comment, als Vertreter eines Landes nach außen hin so weit wie möglich mit einer Stimme zu sprechen und geschlossen aufzutreten. Drittens schließlich, und das ist besonders beschämend, bedient er sich dabei des binären Schein-Gegensatzes zwischen Real- und Moralpolitik, um sich über die angebliche Emotionalität gefährlich regierender Gutmenschen zu erheben und sich selbst die aus „Vernunft“ und „Pragmatismus“ geborene Überlegenheit eines politisch „kühlen Kopfs“ zu attestieren – gerade so, als zeichnete sich die „Zeitenwende“ nicht exakt dadurch aus, dass eine wertegeleitete und interessenbasierte Außenpolitik konvergieren (müssen).

Die Unterscheidung zwischen (guter) Realpolitik und (schlechter) Moralpolitik zählt speziell in Deutschland zu den Erblasten einer flüchtigen Max-Weber-Lektüre: Der Soziologe unterschied in seinem Aufsatz „Politik als Beruf“ (1919) bekanntlich strikt zwischen einer Verantwortungs- und Gesinnungsethik – und riet allen Menschen mit rein „edlen Absichten“, sich bloß nicht auf das Feld der Politik zu wagen, wollten sie nicht an der „ethischen Irrationalität der Welt“ zugrunde gehen. Allerdings dachte der Typologe Max Weber dabei nicht an den „Typus Baerbock“, sondern an den „Typus Mützenich“.

Seit zwei Jahren verheert Russland die Ukraine. Und noch immer fürchtet Europa eine Niederlage Putins mehr als seine Mordlust. Für die EU scheint maximal noch drin, was sie verdient: ein fauler Frieden. Eine Kolumne.
von Dieter Schnaas

Für Weber ist das „‚halte den anderen Backen hin!‘… ohne zu fragen, wieso es dem andern zukommt, zu schlagen“ der perfekte Ausdruck einer politischen „Ethik der Würdelosigkeit“: „Man muss ein Heiliger sein in allem, zumindest dem Wollen nach…, dann ist diese Ethik (der Bergpredigt) sinnvoll und Ausdruck einer Würde. Sonst nicht.“ Ein verantwortungsethischer Politiker zeichnet sich im Gegensatz zum Heiligen durch die Bereitschaft aus, „für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen“ – eben deshalb unterwerfe er sein Wirken der Maxime: „Du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich.“

Zweitens war Weber selbstverständlich klar, dass Moral- und Realpolitik, „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“ sind, weil „alle geschichtliche Erfahrung“ bestätige: Man erreicht nicht das Mögliche, „wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen“ würde. Eben darin liegt für Weber das Wesen aller Politik, die Auszeichnung eines zur Politik berufenen Politikers: Er beherrscht das „starke langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“; er formuliert normative Ziele und verfolgt sie beharrlich, mit „Hingabe an eine ‚Sache‘“ – und gleichviel, um welche Sache es sich dabei handelt: „Immer muss irgendein Glaube da sein“.

Es gibt also keinen Gegensatz zwischen Real- und Moralpolitik. Johann Caspar Bluntschli, ein Schweizer Rechtsgelehrter, hat es bereits 1876 in seiner hübschen Schrift „Politik als Wissenschaft“ auf den Punkt gebracht: „Alle Politik muss real sein; alle Politik soll ideal sein. Beide Sätze sind wahr, wenn sie einander verbunden werden und sich wechselseitig ergänzen. Beide Sätze sind falsch, wenn sie einander ausschließen.“ Aber natürlich kann man auch mit Franz Müntefering, dem größten Politikphilosophen unserer Tage, festhalten, unter welches Leitmotto Politiker ihr Wirken zu stellen haben: „Nimm das Leben, wie es ist. Aber lass es nicht so.“

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%