Tauchsieder
Ein C-130 Hercules Transportflugzeug der Bi-Nationalen Staffel «Rhein» der deutschen Luftwaffe wirft mehr als vier Tonnen Nahrung auf vier Paletten an Fallschirmen über dem Gazastreifen ab. Quelle: dpa Picture-Alliance

Freundschaft mit Israel?

Israel beistehen, den Palästinensern helfen – und Netanjahu stoppen? Die USA und Deutschland gewinnen inzwischen den Eindruck, Israel beute ihre Solidarität aus. Der Philosoph Omri Boehm rät: Versucht’s doch mal mit Lessing! Eine Kolumne.

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Die USA, Europa und Deutschland verschärfen ihre Kritik an Benjamin Netanjahu und erhöhen den Druck auf Israel, von der geplanten Bodenoffensive gegen die Stadt Rafah im Gazastreifen abzusehen. Der israelische Ministerpräsident  „schadet seinem Land mehr als dass er ihm hilft“, sagt US-Präsident Joe Biden. Sein Außenminister Antony Blinken warnt Netanjahu während eines Besuchs in Israel am Freitag, er setze die Sicherheit seines Landes aufs Spiel, drohe sein Land weltweit zu isolieren: „Vielleicht merkst du es erst, wenn es zu spät ist“, soll Blinken Netanjahu gesagt haben.

Doch Netanjahu hält an seinen Plänen fest, die mit Geflüchteten überfüllte Stadt im Süden Gazas anzugreifen, um „den Rest der Hamas-Bataillone zu vernichten“, ließ Blinken kalt abfahren: „Ich habe ihm gesagt, dass ich auf die Unterstützung der USA hoffe. Aber wenn es sein muss, machen wir es alleine.“ Was für ein Affront. Kurz vor seinem Abflug gab Blinken noch einmal entnervt zu Protokoll: Die geplante Großoffensive Israels sei der „falsche Weg“.

Es ist ein vorläufiger Tiefpunkt in den diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Israel – vorläufig, weil ihre Talfahrt sich in den nächsten Wochen fortsetzen dürfte. Der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer, wirft Netanjahu vor, er sei „vom Weg abgekommen“ und ruft die Israelis zur Abwahl ihres Ministerpräsidenten auf. Kanada hat seine Waffenlieferungen an Israel inzwischen eingestellt; die USA, die Israel mit militärischem Material in Höhe von 3,8 Milliarden Dollar jährlich unterstützen, könnten dem Beispiel bald folgen.

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Denn Israel missachtet nicht nur den Rat seines engsten Freundes, es provoziert ihn auch, beinahe täglich: Ausgerechnet am Tag der Blinken-Abfuhr entschied die Regierung auch noch, sich weitere 800 Hektar Land im Westjordanland völkerrechtswidrig anzueignen – nachdem Israel mit seiner forcierten Siedlungspolitik dort in den vergangenen fünf Monaten bereits den Tod von 400 Palästinensern in Kauf genommen und provoziert hat. „Jeder, der in dieser Zeit alles noch schwerer macht“, sagte Blinken und rang um Fassung – „damit haben wir ein Problem.“

Die USA haben dem UN-Sicherheitsrat inzwischen auch den Entwurf einer Resolution vorgelegt, in der sie zum ersten Mal die „Notwendigkeit eines sofortigen und dauerhaften Waffenstillstands“ anerkennen, „um die Zivilbevölkerung auf allen Seiten zu schützen und die Bereitstellung entscheidender humanitärer Hilfe zu ermöglichen“. Die Forderung nach einer sofortigen Feuerpause ist verknüpft mit der Aufforderung an die Hamas, alle Geiseln freizulassen. Die Resolution wurde am Freitag von China und Russland erwartungsgemäß abgelehnt. Aber auch sie dokumentiert eine Eiszeit zwischen den USA und Israel.   

Es ist keine Kehrtwende. Wohl aber eine politische Akzentverschiebung im sechsten Monat eines Krieges, den die Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 mit der barbarischen Ermordung, Hinrichtung und Verschleppung von 1400 israelischen Zivilisten herausgefordert haben. Die USA und Deutschland haben sich aus Solidarität mit Israel und in schroffer Gegnerschaft zu seinen Feinden, die Israel erklärtermaßen vernichten wollen, bisher gegen alle Forderungen nach einer „allgemeinen und sofortigen Waffenruhe, zumal einen „Waffenstillstand“ verwahrt, der die Gründe für die Militärschläge Israels im Gazastreifen und das „Selbstverteidigungsrecht“ des überfallenen Landes ignoriert.

Auch Außenministerin Annalena Baerbock hat bisher allenfalls von einer „nachhaltigen Waffenruhe“ oder „humanitären Feuerpause“ gesprochen, die sie anfangs ablehnte, später befürwortete und heute vehement einfordert: „Das Sterben, das Hungern muss ein Ende haben.“

Was aber steckt hinter der Akzentverschiebung? Erstens die schiere Not der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza und der offensichtliche Wille Israels, im Marsch auf Rafah den Tod vieler tausend Zivilisten in Kauf zu nehmen, die dorthin geflüchtet sind. Zweitens erweckt Israel (etwa mit seiner Siedlungspolitik und Annexionsplänen für Gaza) den Eindruck, sich das Westjordanland sukzessive einverleiben zu wollen und sich in Gaza zu einem Zerstörungskrieg hinreißen zu lassen, der eine politische Perspektive für die Palästinenser und eine diplomatische Wiederbelebung der Zwei-Staaten-Lösung nicht etwa begünstigt sondern ausschließt.

Drittens beschädigt Israel mit seinen fortgesetzten Verletzungen des (humanitären) Völkerrechts – Landnahme und Vertreibung im Westjordanland; „willkürliche Bombardements“ (US-Präsident Joe Biden); tausende zivile Opfer; die unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit Hilfsgütern speziell im militärisch kontrollierten Norden Gazas – inzwischen auch die Reputation seiner engsten Freunde als Hüter einer internationalen Ordnung, in deren Zentrum die Achtung des Völkerrechts und die Unveräußerlichkeit individueller Menschenrechte stehen.

Viertens schließlich dürften die USA und Deutschland ihre Freundschaft und „unverbrüchliche Solidarität“ mit Israel (Vizekanzler Robert Habeck) inzwischen schlicht überstrapaziert, ja ausgebeutet sehen von der israelischen Regierung: Diese Solidarität galt und gilt dem in seiner staatlichen Verfasstheit bedrohten Israel als völkerrechtlich verbrieftem  Schutzraum des jüdischen Volkes – gegen alle, die Israel das Existenzrecht absprechen. Aber diese Solidarität gilt nicht dem Israel der jüdischen Siedler im Westjordanland und ihren Wortführern in der Regierung, dem Israel der Tora und des biblischen Landes Kanaan, auf dessen Boden frommfundamentalistische Juden einen heiligen Anspruch zu haben glauben, um ihn Tausende Jahre später gewaltsam und völkerrechtswidrig gegen dort lebende Araber durchzusetzen – und auch nicht einer israelischen Regierung, die Grenzverschiebungen sanktioniert – und den Menschen in Gaza keine politische Perspektive eröffnet.



Zweierlei Israel also. Und die Fähigkeit zu ihrer Unterscheidung wächst in Washington und Berlin mit jeder weiteren Woche, in der Netanjahu diese Unterscheidung unterläuft, die „unverbrüchliche Freundschaft“ instrumentalisiert und den emotionalen Druck auf seine Freunde im Namen eines einzigen Israel erhöht: Seit knapp sechs Monaten bindet Netanjahu einen großen Teil der außenpolitischen Ressourcen seiner Freunde – nur um ihre diplomatischen Offensiven in der Region immer wieder ins Leere laufen zu lassen.

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