Diplomatie

Wie viel Platz haben Werte und Moral in der Außenpolitik?

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Die Unantastbarkeit der Menschenwürde im Zentrum

Drittens hat Max Weber allein für einen dritten Politikertypus, nennen wir ihn den „Typus Söder“, nichts als Verachtung übrig: für eine „Eitelkeit“, die keine „sachliche Hingabe“ und „Distanz sich selbst gegenüber“ kennt; für das „parvenümäßige Bramarbasieren mit Macht“ und die ins „Leere und Sinnlose“ greifende Pose, für den politischen „Schauspieler“, der „nur nach dem ‚Eindruck‘“ fragt, „den er macht“, für die „oberflächliche Blasiertheit“, die „keinerlei Verwandtschaft hat mit dem Wissen um die Tragik, in die alles Tun, zumal… das politische Tun,… verflochten ist“.

Derselbe Markus Söder, der „ein solches Zögern, sich verstecken“ des Bundeskanzlers in der Ukraine-Politik für „unwürdig“ befunden hat, meint in Peking anno 2024 „wertschätzende“ (sic!) Gespräche mit Chinas Spitzenpolitikern führen zu können, die Putin vorbehaltlos unterstützen – und er ist sich, um Applaus für seine „realpolitische" Tui-Tour durch China zu erheischen, nicht mal zu schade, auch noch lauter Pappkameraden ins Schaufenster stellen: „Eine Abschottung wäre der falsche Weg“, so Söder – als habe irgendein Ampelpolitiker das jemals gefordert.

Genug. Die Frage ist: Was wäre der archimedische Punkt einer wertebasierten Außenpolitik, die zugleich unseren Interessen entspricht? Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm schlägt im Rückgriff auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Immanuel Kants humanistischen Universalismus und Schlüsselerzählungen der Tora ein verbindliches Weltethos „selbstevidenter Wahrheiten“ vor – ein transzendiertes Gerechtigkeitskonzept, an dessen Forderungen sich die Menschen aus Einsicht und Freiheit unbedingt gebunden fühlen und in dessen Zentrum die Unantastbarkeit der Menschenwürde steht.

Anders als Tiere, argumentiert Boehm mit Kant, sind Menschen für den Ruf offen, was sie tun sollen. Daher ist Menschen Freiheit nicht gegeben, sondern aufgegeben; daher kann allein der Mensch, als pflicht- und vernunftbegabtes Wesen, „Zweck an sich selbst sein“ (Kant) – und daher stellt alles, was den Menschen zum Mittel degradiert, eine Verletzung seiner Würde dar.

Eine metayphysische Gerechtigkeit

In der Bibel sind es Hiob und Abraham, die im Rückgriff auf dieses doppelte Gerechtigkeitskonzept – alle Menschen sind gleich und mit unveräußerlicher Würde ausgestattet – den Willkürgott herausfordern. Abraham klagt Gott vor der Zerstörung Sodom und Gomorras an: „Willst du denn den Gerechten mit den Gottlosen umbringen?… Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?“ Und Hiob beweist Gott mit der Hinnahme grundloser Zumutungen, „dass er nicht seine Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete“ (Kant).

In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist die Universalität einer solchen metayphysischen Gerechtigkeit, der vormoderne Gottheiten, irdische Könige und erst recht demokratische Regierungen unterworfen sind, auf den Begriff der „selbstevidenten Wahrheit“ gebracht worden – und Boehm leitet aus ihr mit Verweis auf die Sklavenbefreiung und den Kampf gegen die Rassentrennung in den USA nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern auch eine Widerstandspflicht ab, sollten Regierungen es verletzen: „Ein gerechtes Gesetz ist ein von Menschen gemachtes Gesetz, das mit dem Gesetz der Moral oder dem Gesetz Gottes übereinstimmt“, so zitiert Boehm Martin Luther King in seinem „Brief aus dem Gefängnis in Birmingham“ und: „Ein ungerechtes Gesetz ist ein menschliches Gesetz, das nicht im Gesetz des Ewigen und der Natur verwurzelt ist.“

Boehm versucht mit viel Aufwand, die Autorität seines „radikalen Universalismus“ absoluter Gerechtigkeit an seine Fähigkeit zur Transzendenz zu binden, also an seine Fähigkeit, einer Verfassung der Menschen (gleichsam ex nihilo) ihre Verfassung zu geben, um die „Wahrheit“ der metaphysischen Gerechtigkeit zu fundieren und allen partikularen Solidaritäten und Gruppenidentitäten (Nation, Rasse, Unterdrückte etc.) überzuordnen.

Verteidigung der Menschenwürde

Der Preis für diese Prämisse ist allerdings hoch, denn Boehm muss dafür nicht nur alle Theoretiker der Verbindlichkeit menschengemachter (nicht metaphysischer) Gesetze im Namen seiner prärogativen, abstrakten Menschenrechtsidee zurückweisen, sondern auch die Möglichkeit einer Übereinkunft vernunftbegabter Menschen – und damit letztlich auch seinen Kronzeugen Kant – zurückweisen. Das Ergebnis: ein logischer Regress. Schließlich hebt schon der entscheidende Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit dem kürzesten Ausdruck einer menschlichen Übereinkunft an: „We hold these truths to be self-evident...“

Macht nichts. Denn ob metaphysisch oder menschengemacht: Die Universalität der Menschenwürde ist auch politisch verbrieft in der Charta der Vereinten Nationen – und wer es mit einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ ernst meint, findet in ihr nicht nur seinen moralpolitischen Ausgangspunkt, sondern auch seinen realpolitischen Selbstauftrag: Die Würde des Menschen hängt davon ab, nicht in der Macht eines anderen zu stehen – und es ist nicht nur rechtens, sondern auch gerecht, gegen Regime und Politiker aufzustehen, die die Menschenwürde systematisch verletzen, die Menschen zu Mitteln niederer Zwecke und Interessen degradieren.

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von Julian Heißler

Was heißt das speziell fürs (außen-)wirtschaftspolitische Handeln? Nun: Deutschland ist am 24. Februar 2022, dem Tag des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine, endgültig in einer neuen Welt aufgewacht. Es ist eine Welt der Verteidigungsbereitschaft und Konfrontation, des forcierten Wettbewerbs und der Systemkonkurrenz, des beherzten Zugriffs auf knappe Rohstoffe und des Rennens um Technologieführerschaft, der Schaukelpolitik, der Bündnissysteme und möglichen Blockbildung – aber auch der Weltgemeinschaftsaufgaben (Klima, Artenschutz, Freihandel), die wir als Menschheit nur zusammen oder gar nicht lösen werden.

Und es ist interessant zu beobachten, dass ausgerechnet viele Grüne es in der Bundesregierung bisher am besten verstehen, die Deutschen auf die Reise in diese moralisch uneindeutige Wirtschaftswelt vorzubereiten: Sie verstehen Freiheit nicht primär als „wirtschaftliche Freiheit“, sondern in Boehms Sinne elementar-human: eben als Freiheit aller nicht in der Macht eines anderen stehen zu müssen. An einem solchen Freiheitsverständnis zerschellt alle Realpolitik „übergeordneter Interessen“ und politischer Schulterklopffreundschaften, von Gerhard Schröders Gas- und Ölkumpaneien mit dem Kreml über Manuela Schwesigs und Olaf Scholz' „rein privatwirtschaftlichen Projekten“ (Nord Stream 2); im Licht eines solchen „Liberalismus der Furcht“ vor Gewalt, Unterdrückung, Drangsal und Einschüchterung (Judith Shklar) schrumpfen alle Forderungen nach „wirtschaftspolitischer Vernunft“ und „Pragmatismus“ im Umgang mit Potentaten zu nachgeordneten Partikularinteressen.

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