Diplomatie
Quelle: dpa Picture-Alliance

Wie viel Platz haben Werte und Moral in der Außenpolitik?

So viel Realitätssinn wie möglich, so viel Moral wie nötig – oder umgekehrt? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Dabei sind wertegeleitete und interessenbasierte Außenpolitik längst ein und dasselbe. Eine Kolumne.

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Markus Söder hat zuletzt China bereist. Präziser ausgedrückt: Ein politisches Kind hat den allerniedlichsten Bildern seiner China-Fantasien eine Stippvisite abgestattet, um sie sich von der Realität bestätigen zu lassen. Pandas sind wirklich süß, knuffig, friedlich. Die Chinesische Mauer ist tatsächlich beeindruckend (auch im Nebel). Und eine traditionell zubereitete Pekingente zurecht berühmt. So viel vom Weltenbummler Markus: Insta-Grüße in die Heimat!

Aber Söder war natürlich nicht nur zum Vergnügen in China, sondern auch in seiner Funktion als bayerischer Ministerpräsident, um sich von China überzeugen zu lassen, dass es seinen fröhlich gestimmten Wünschen und Vorstellungen entspricht.

Mag sein, dass es dieses Land nicht (mehr) gibt, seit Generalsekretär Xi Jinping es regiert, aber sei’s drum, man darf sich ja wohl eine kleine Zeitreise gönnen und in das „deutsche China“ der seligen Gerhard-Schröder- und Angela-Merkel-Jahre reisen, also etwa eine Magnetschwebebahn besteigen, sich zwischen chinesische Kinder in Bayern-Trikots stellen, sich einen Doktorhut aufsetzen lassen.

Das alles ginge soeben hin, wenn Markus Söder es dabei belassen würde. Viele Chinesen haben sich schon damals amüsiert über deutsche Politikerinnen und Manager, die ihnen mit einer Mischung aus Herablassung, angelesener Baedeker-Faszination und gönnerhafter Anerkennung (dieser Ehrgeiz! dieser Aufstiegswille!) begegneten.

Markus Söder besichtigt bei Peking ein Stück der Chinesischen Mauer. Quelle: dpa

Das Land versicherte den Deutschen seine Dankbarkeit und Bewunderung, es charmierte ihren Ingenieursstolz und bat untertänigst um die Gunst technologischer Teilhabe. Es ließ sich scheinbar belehren von Demokraten und ehemaligen Kolonialisten, sogar zu Rechtsstaatsdialogen herab, es machte hoch seine Türen für Delegationen, die Tore weit für Unternehmen – und setzte sich lernend zum Ziel, den Lehrmeister möglichst alsbald zu bemeistern, ihn als ökonomischen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, ihm politisch die Stirn zu bieten, sich alle Zeigefingerei zu verbitten, ein für allemal.

Aber Söder belässt es nicht dabei. Er stellt nicht nur seine touristische Naivität bei Instagram aus und seine politische Naivität rein in den Dienst angeblicher wirtschaftlicher Primärinteressen. Er begnügt sich nicht damit, Stoffpandas zu knuddeln und sich von einer Kaderschmiede zum Ehrenprofessor küren zu lassen („Große Ehre“).

Bussi fürs Bärli: Söder posiert bei seinem Besuch des Chengdu Research Base of Giant Panda Breeding mit einem geschenkten Panda-Plüschbär. Quelle: dpa

Sondern er muss seinem Besuch auch noch das Odium einer staatsmännischen Verantwortungsethik verleihen, ihn als praktizierten Gegenentwurf zur „wertegeleiteten Außenpolitik“ der Ampelregierung inszenieren. Er habe „keine andere außenpolitische Auffassung als die Bundesregierung“, sagt Söder, wohl aber einen „eigenen Standpunkt“ – nur um anschließend klarzustellen, dass er keinen anderen Standpunkt vertritt als die Bundesregierung, wohl aber eine andere Auffassung. Er setzt auf „dauerhaften Dialog statt einmaligen Monolog“, sagt Söder und: „Wir machen Real- statt Moralpolitik.“

Und damit auch wirklich alle verstehen, was er von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock hält, schiebt er noch hinterher, das seine Signale dauernder Gesprächsbereitschaft Richtung China allemal besser seien, als sich „einmal gründlich die Meinung zu sagen und dann den Gesprächsdraht verbrannt zu haben“.

Das alles ist mindestens dreifach peinlich. Erstens blendet Söder mit seiner pandadiplomatischen Rolle rückwärts aus, dass China 2024 nicht viel gemein hat mit China 2004. Generalsekretär Xi hat die Freiheit Hongkongs erstickt, probt seit Jahren die gewaltsame Vereinnahmung Taiwans und bereitet sich mit einem forciertem De-Coupling akribisch auf mögliche Sanktionen des Westens vor; er ist mit Wladimir Putin persönlich und Russland als einem erklärten Feind Europas politisch „unverbrüchlich befreundet“ und hofiert selbstverständlich auch Mullahs und Taliban, die er speziell für ihren Antiamerikanismus schätzt.

Gute Realpolitik – schlechte Moralpolitik?

Zweitens verletzt Söder vorsätzlich den diplomatischen Comment, als Vertreter eines Landes nach außen hin so weit wie möglich mit einer Stimme zu sprechen und geschlossen aufzutreten. Drittens schließlich, und das ist besonders beschämend, bedient er sich dabei des binären Schein-Gegensatzes zwischen Real- und Moralpolitik, um sich über die angebliche Emotionalität gefährlich regierender Gutmenschen zu erheben und sich selbst die aus „Vernunft“ und „Pragmatismus“ geborene Überlegenheit eines politisch „kühlen Kopfs“ zu attestieren – gerade so, als zeichnete sich die „Zeitenwende“ nicht exakt dadurch aus, dass eine wertegeleitete und interessenbasierte Außenpolitik konvergieren (müssen).

Die Unterscheidung zwischen (guter) Realpolitik und (schlechter) Moralpolitik zählt speziell in Deutschland zu den Erblasten einer flüchtigen Max-Weber-Lektüre: Der Soziologe unterschied in seinem Aufsatz „Politik als Beruf“ (1919) bekanntlich strikt zwischen einer Verantwortungs- und Gesinnungsethik – und riet allen Menschen mit rein „edlen Absichten“, sich bloß nicht auf das Feld der Politik zu wagen, wollten sie nicht an der „ethischen Irrationalität der Welt“ zugrunde gehen. Allerdings dachte der Typologe Max Weber dabei nicht an den „Typus Baerbock“, sondern an den „Typus Mützenich“.

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Für Weber ist das „‚halte den anderen Backen hin!‘… ohne zu fragen, wieso es dem andern zukommt, zu schlagen“ der perfekte Ausdruck einer politischen „Ethik der Würdelosigkeit“: „Man muss ein Heiliger sein in allem, zumindest dem Wollen nach…, dann ist diese Ethik (der Bergpredigt) sinnvoll und Ausdruck einer Würde. Sonst nicht.“ Ein verantwortungsethischer Politiker zeichnet sich im Gegensatz zum Heiligen durch die Bereitschaft aus, „für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen“ – eben deshalb unterwerfe er sein Wirken der Maxime: „Du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich.“

Zweitens war Weber selbstverständlich klar, dass Moral- und Realpolitik, „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“ sind, weil „alle geschichtliche Erfahrung“ bestätige: Man erreicht nicht das Mögliche, „wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen“ würde. Eben darin liegt für Weber das Wesen aller Politik, die Auszeichnung eines zur Politik berufenen Politikers: Er beherrscht das „starke langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“; er formuliert normative Ziele und verfolgt sie beharrlich, mit „Hingabe an eine ‚Sache‘“ – und gleichviel, um welche Sache es sich dabei handelt: „Immer muss irgendein Glaube da sein“.

Es gibt also keinen Gegensatz zwischen Real- und Moralpolitik. Johann Caspar Bluntschli, ein Schweizer Rechtsgelehrter, hat es bereits 1876 in seiner hübschen Schrift „Politik als Wissenschaft“ auf den Punkt gebracht: „Alle Politik muss real sein; alle Politik soll ideal sein. Beide Sätze sind wahr, wenn sie einander verbunden werden und sich wechselseitig ergänzen. Beide Sätze sind falsch, wenn sie einander ausschließen.“ Aber natürlich kann man auch mit Franz Müntefering, dem größten Politikphilosophen unserer Tage, festhalten, unter welches Leitmotto Politiker ihr Wirken zu stellen haben: „Nimm das Leben, wie es ist. Aber lass es nicht so.“

Die Unantastbarkeit der Menschenwürde im Zentrum

Drittens hat Max Weber allein für einen dritten Politikertypus, nennen wir ihn den „Typus Söder“, nichts als Verachtung übrig: für eine „Eitelkeit“, die keine „sachliche Hingabe“ und „Distanz sich selbst gegenüber“ kennt; für das „parvenümäßige Bramarbasieren mit Macht“ und die ins „Leere und Sinnlose“ greifende Pose, für den politischen „Schauspieler“, der „nur nach dem ‚Eindruck‘“ fragt, „den er macht“, für die „oberflächliche Blasiertheit“, die „keinerlei Verwandtschaft hat mit dem Wissen um die Tragik, in die alles Tun, zumal… das politische Tun,… verflochten ist“.

Derselbe Markus Söder, der „ein solches Zögern, sich verstecken“ des Bundeskanzlers in der Ukraine-Politik für „unwürdig“ befunden hat, meint in Peking anno 2024 „wertschätzende“ (sic!) Gespräche mit Chinas Spitzenpolitikern führen zu können, die Putin vorbehaltlos unterstützen – und er ist sich, um Applaus für seine „realpolitische" Tui-Tour durch China zu erheischen, nicht mal zu schade, auch noch lauter Pappkameraden ins Schaufenster stellen: „Eine Abschottung wäre der falsche Weg“, so Söder – als habe irgendein Ampelpolitiker das jemals gefordert.

Genug. Die Frage ist: Was wäre der archimedische Punkt einer wertebasierten Außenpolitik, die zugleich unseren Interessen entspricht? Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm schlägt im Rückgriff auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Immanuel Kants humanistischen Universalismus und Schlüsselerzählungen der Tora ein verbindliches Weltethos „selbstevidenter Wahrheiten“ vor – ein transzendiertes Gerechtigkeitskonzept, an dessen Forderungen sich die Menschen aus Einsicht und Freiheit unbedingt gebunden fühlen und in dessen Zentrum die Unantastbarkeit der Menschenwürde steht.

Anders als Tiere, argumentiert Boehm mit Kant, sind Menschen für den Ruf offen, was sie tun sollen. Daher ist Menschen Freiheit nicht gegeben, sondern aufgegeben; daher kann allein der Mensch, als pflicht- und vernunftbegabtes Wesen, „Zweck an sich selbst sein“ (Kant) – und daher stellt alles, was den Menschen zum Mittel degradiert, eine Verletzung seiner Würde dar.

Eine metayphysische Gerechtigkeit

In der Bibel sind es Hiob und Abraham, die im Rückgriff auf dieses doppelte Gerechtigkeitskonzept – alle Menschen sind gleich und mit unveräußerlicher Würde ausgestattet – den Willkürgott herausfordern. Abraham klagt Gott vor der Zerstörung Sodom und Gomorras an: „Willst du denn den Gerechten mit den Gottlosen umbringen?… Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?“ Und Hiob beweist Gott mit der Hinnahme grundloser Zumutungen, „dass er nicht seine Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete“ (Kant).

In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist die Universalität einer solchen metayphysischen Gerechtigkeit, der vormoderne Gottheiten, irdische Könige und erst recht demokratische Regierungen unterworfen sind, auf den Begriff der „selbstevidenten Wahrheit“ gebracht worden – und Boehm leitet aus ihr mit Verweis auf die Sklavenbefreiung und den Kampf gegen die Rassentrennung in den USA nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern auch eine Widerstandspflicht ab, sollten Regierungen es verletzen: „Ein gerechtes Gesetz ist ein von Menschen gemachtes Gesetz, das mit dem Gesetz der Moral oder dem Gesetz Gottes übereinstimmt“, so zitiert Boehm Martin Luther King in seinem „Brief aus dem Gefängnis in Birmingham“ und: „Ein ungerechtes Gesetz ist ein menschliches Gesetz, das nicht im Gesetz des Ewigen und der Natur verwurzelt ist.“

Boehm versucht mit viel Aufwand, die Autorität seines „radikalen Universalismus“ absoluter Gerechtigkeit an seine Fähigkeit zur Transzendenz zu binden, also an seine Fähigkeit, einer Verfassung der Menschen (gleichsam ex nihilo) ihre Verfassung zu geben, um die „Wahrheit“ der metaphysischen Gerechtigkeit zu fundieren und allen partikularen Solidaritäten und Gruppenidentitäten (Nation, Rasse, Unterdrückte etc.) überzuordnen.

Verteidigung der Menschenwürde

Der Preis für diese Prämisse ist allerdings hoch, denn Boehm muss dafür nicht nur alle Theoretiker der Verbindlichkeit menschengemachter (nicht metaphysischer) Gesetze im Namen seiner prärogativen, abstrakten Menschenrechtsidee zurückweisen, sondern auch die Möglichkeit einer Übereinkunft vernunftbegabter Menschen – und damit letztlich auch seinen Kronzeugen Kant – zurückweisen. Das Ergebnis: ein logischer Regress. Schließlich hebt schon der entscheidende Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit dem kürzesten Ausdruck einer menschlichen Übereinkunft an: „We hold these truths to be self-evident...“

Macht nichts. Denn ob metaphysisch oder menschengemacht: Die Universalität der Menschenwürde ist auch politisch verbrieft in der Charta der Vereinten Nationen – und wer es mit einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ ernst meint, findet in ihr nicht nur seinen moralpolitischen Ausgangspunkt, sondern auch seinen realpolitischen Selbstauftrag: Die Würde des Menschen hängt davon ab, nicht in der Macht eines anderen zu stehen – und es ist nicht nur rechtens, sondern auch gerecht, gegen Regime und Politiker aufzustehen, die die Menschenwürde systematisch verletzen, die Menschen zu Mitteln niederer Zwecke und Interessen degradieren.

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Was heißt das speziell fürs (außen-)wirtschaftspolitische Handeln? Nun: Deutschland ist am 24. Februar 2022, dem Tag des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine, endgültig in einer neuen Welt aufgewacht. Es ist eine Welt der Verteidigungsbereitschaft und Konfrontation, des forcierten Wettbewerbs und der Systemkonkurrenz, des beherzten Zugriffs auf knappe Rohstoffe und des Rennens um Technologieführerschaft, der Schaukelpolitik, der Bündnissysteme und möglichen Blockbildung – aber auch der Weltgemeinschaftsaufgaben (Klima, Artenschutz, Freihandel), die wir als Menschheit nur zusammen oder gar nicht lösen werden.

Und es ist interessant zu beobachten, dass ausgerechnet viele Grüne es in der Bundesregierung bisher am besten verstehen, die Deutschen auf die Reise in diese moralisch uneindeutige Wirtschaftswelt vorzubereiten: Sie verstehen Freiheit nicht primär als „wirtschaftliche Freiheit“, sondern in Boehms Sinne elementar-human: eben als Freiheit aller nicht in der Macht eines anderen stehen zu müssen. An einem solchen Freiheitsverständnis zerschellt alle Realpolitik „übergeordneter Interessen“ und politischer Schulterklopffreundschaften, von Gerhard Schröders Gas- und Ölkumpaneien mit dem Kreml über Manuela Schwesigs und Olaf Scholz' „rein privatwirtschaftlichen Projekten“ (Nord Stream 2); im Licht eines solchen „Liberalismus der Furcht“ vor Gewalt, Unterdrückung, Drangsal und Einschüchterung (Judith Shklar) schrumpfen alle Forderungen nach „wirtschaftspolitischer Vernunft“ und „Pragmatismus“ im Umgang mit Potentaten zu nachgeordneten Partikularinteressen.

Die Deutschen und ihre flache Welt

Das alles heißt natürlich nicht, dass deutsche Außenwirtschaftspolitiker und Manager nicht mehr mit Vertretern von Ländern sprechen und Geschäfte abschließen sollen, die dem ideellen Wert der Menschenwürde in der politischen und ökonomischen Praxis weniger Beachtung schenken: Wir Europäer zuletzt haben unseren Selbstansprüchen speziell im 19. und. 20. Jahrhundert genügt und sollten uns Belehrungen sehr weitgehend enthalten.

Aber das heißt sehr wohl, diese Werte und ihre institutionellen Garanten (liberale Rechtsordnung, Meinungsfreiheit, demokratische (ab)gewählte Regierungen) entschieden gegen ihre Feinde zu verteidigen und sie gegenüber neutralen Partnern und uns selbst möglichst konsequent zu „leben“: aus Überzeugung. Das heißt sehr wohl, einem Russland politisch (und militärisch) die Stirn zu bieten (und ökonomisch konsequent den Rücken zuzukehren), das sich entschieden hat, uns feind sein zu wollen. Das heißt sehr wohl, sich einem Land wie China, das machtvoll auf eine Abschaffung universaler, individueller Rechte gegen den Staat zielt, um alle Menschen dieser Erde zu Mitteln je staatlicher Entwicklungszwecke egal welcher Regierungen zu verzwergen, besser nicht auszuliefern.

Viele in der SPD – parteinahe Historiker wie Heinrich August Winkler haben es gerade noch einmal herausgestrichen, auch manche in Union und FDP – siehe Markus Söder – lassen es diesbezüglich bis heute an einer „nötigen Klarheit“ fehlen. Sie treten gegenüber „moralisierenden Gutmenschen“ noch immer gern onkelhaft auf, annoncieren geschäftige Weltmännlichkeit gegenüber allem, was sie für „naiv“ halten und „gesinnungsethisch“ zeihen. Und merken dabei nicht einmal, dass der Naivitätsvorwurf längst auf sie und ihre hohlen „Wandel-durch-Handel“-Formeln zurückschlägt. Und dass demgegenüber etwa Robert Habeck oder Annalena Baerbock, von gelegentlichen  Belehrungspatzern einmal abgesehen, außenwirtschaftspolitisch plötzlich wie eine „feste Burg“ erscheinen: eben weil sie ihre politische Praxis an der Norm eines „radikalen Universalismus“ der Menschenwürde messen und daher glaubhafter als andere vermitteln, sich in einer moralisch uneindeutigen Welt aus eher besseren denn schlechteren Gründen zuweilen auch „die Hände schmutzig machen“ (Habeck) zu müssen.

Die Ängste der Wirtschaft

Und die Wirtschaft? Sie hat traditionell Angst vor einer „wertegeleiteten Außenpolitik“: Kapital geht bekanntlich gern dahin, wo es die günstigsten Bedingungen zu seiner Vermehrung findet – also auch nach China oder Russland, ganz egal. Viele Manager haben sich drei Jahrzehnte lang Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ vorgebetet – und mit Thomas Friedman nur zu gern an die Utopie einer „flachen Welt“ geglaubt, die sich nicht zuletzt dank ihrer Hilfe realisiert: eine Welt der friktionslosen Handelsbeziehungen, die die Menschen einander näher bringt und pazifiziert. Welcher Diktator, so prostete man sich bei jedem Geschäftsabschluss zu, werde sich am Ende nicht überzeugen lassen von den technologischen Errungenschaften der westlichen Moderne, den Vorzügen des zivilisatorischen Fortschritts – den Annehmlichkeiten einer deutschen Luxuslimousine?

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Die Deutschen haben von dieser flachen Welt ausweislich ihrer Handelsbilanzüberschüsse bis zuletzt besonders profitiert, ihre Autos und Maschinen, Schrauben und Laubbläser in alle Winkel der Erde verkauft – und sich im Windschatten politischer Konflikte nahezu unbehelligt freuen können über Weltmarktführerschaften und Exportrekorde. Putin hat diesen entgrenzten, globalisierten Welt-Raum nun wieder in regionale Einflusszonen geschrumpft, ihn parzelliert in Eingriffsgebiete und Sphären nationaler Interessen, ihn markiert als geschichtlichen Boden und territorialen Anspruch – das ist die „Zeitenwende“, auf die sich deutsche Politiker und Manager einstellen müssen: Die gut drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer waren die Scheinblüte einer liberalen Weltordnung. Die Wirtschaft hat geglaubt, sie in diesem Sinne verändern zu können. Es kommt aber darauf an, ihre Unordnung richtig zu interpretieren.

Schluss in China?

Und – wie geht es dann weiter? Ist für Unternehmen bald auch in China Schluss? Nein, vorerst nicht. China bedroht noch keine deutschen Unternehmen in Deutschland, keine europäischen Nationen in Europa, so wie Russland. Und China hat (nicht nur) die (wirtschaftliche) Freiheit vieler Millionen Menschen in seinem Land in den vergangenen 40 Jahren dramatisch erhöht, das gilt es anzuerkennen. Es geht um De-Risking, nicht De-Coupling. Um eine Reduzierung der Risiken, nicht um eine Abnabelung. Um Distanzgewinnung zu einem politischen Antagonisten, nicht um Hostilität. Das ist das eine. 

Das andere: Der Welt-Raum weitet sich in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr zum neoliberalen „dominium“ einer grenzenlos agierenden Wirtschaft, sondern wird künftig (wieder) von Groß- und Mittelmächten nationalpolitisch als „Imperium“ bewirtschaftet, in allererster Linie von China. Das zeigt nicht nur die nach Afrika und in den Mittleren Osten ausgreifende „Seidenstraße“ und die „unverbrüchliche Freundschaft“ zwischen China und Russland, aber natürlich auch die US-geführte „Allianz der Demokratien“.

Das alles muss nicht auf eine ideologische oder geografische Blockbildung hinauslaufen (Autokratien versus Demokratien, Asien-Afrika-Block versus Transatlantik), dagegen sprechen schon die starken Sonderinteressen von Ländern wie Indien, Indonesien, Japan, Südkorea, Brasilien, Südafrika. Im Gegenteil. Viel spricht dafür, dass (diesmal tatsächlich) eine multipolare Welt konkurrierender, sich vielfach kreuzender, nationaler, regionaler und weltanschaulich motivierter Interessen entsteht. Und es wäre wünschenswert, wenn auch die USA dabei ihre unilaterale Übergriffigkeit auf ein Minimum reduzierte und sich nurmehr in entscheidenden Momenten entschieden einmischte – so wie augenblicklich in der Ukraine.

Deutschland muss seine neue Rolle finden

Und Deutschland? Muss seine Rolle in dieser neuen Welt vor allem in einem Europa finden, das sich auf sich selbst und sein Bestes besinnt. Auf seine Rolle in einem Europa, dem Putin den Krieg erklärt hat. In einem Europa ohne Russland, das einmal unsere „Tankstelle“ (Öl, Gas) mit angeschlossenem „Bistrobereich“ (Getreide, Rohstoffe) war, so der Politikwissenschaftler Philip Manow – denn Putin hat es so gewollt.

Die „neue Weltordnung“ besteht vor allem darin, erneut und jederzeit mit der Möglichkeit von Zivilisationsbrüchen zu rechnen, mit dem Aufstieg von Potentaten und dem Dementi all dessen, was wir für realpolitisch und „vernünftig“ halten – sich endlich wieder zu wappnen für eine Welt, die von Menschen bewohnt wird, „wie sie sind und immer waren und sein werden“ (Jacob Burckhardt): mit einem moralischen Kompass in der Tasche. Denn in einer solchen Welt sind Demokratien und Rechtsstaaten nur so stark wie die Bereitschaft, sie unbedingt zu verteidigen.

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In einer solchen Welt heißt „wertebasierte Außenpolitik“, dass die Adressierung von Menschenrechts- und Freiheitsfragen nicht mehr als pflichtschuldig vorgetragenes Postscriptum gelingender Außen(wirtschafts)beziehungen verstanden wird, sondern am selbstbewussten Anfang aller Diplomatie steht. In einer solchen Welt kann eine „wertebasierte Außenpolitik“ nur so erfolgreich sein wie sie militärisch jederzeit abgesichert ist. Und in einer solchen Welt kann Europa nur dann seine Interessen erfolgreich verfolgen, wenn es sich auf der Basis seiner Werte auf eine gemeinsame Strategie verständigt, in der „Werte“ und „Interessen“  konvergieren – auch gegenüber China.

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