Tauchsieder
Trump, Putin, Höcke: Droht 2024 ein Schicksalsjahr für die Demokratie zu werden? Quelle: imago images

2024 – ein Schicksalsjahr für die liberale Demokratie

Russland zwingt die Ukraine in die Knie, China greift Taiwan an, Iran entgrenzt den Nahostkonflikt, Trump wird US-Präsident, die AfD erobert Landtage – die Deutschen blicken 2024 in einen Abgrund.

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Machen wir uns nichts vor: Es geht 2024 ums Ganze für Deutschland und Europa, die liberale Demokratie und die westliche Welt, um die internationale Ordnung, um die verbindliche Anerkennung universaler Werte und die Gleichrangigkeit von Völkerrecht und Menschenrechten. Noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges haben die Deutschen um Silvester und Neujahr so besorgt in die Zukunft blicken müssen.

Aber klar, „liebe Landsleute“, die Hauptsache ist doch, dass der Bundespräsident uns versteht: dass es den Deutschen manchmal zu viel wird, dass wir „am liebsten vor der Wirklichkeit in Deckung gehen“ und die „bedrückende Weltlage“ nicht „jeden Tag aufs Neue“ an uns heranlassen möchten: „Wir haben Bilder von Leid und Zerstörung gesehen, Bilder von Hass und Gewalt“, so Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache auf Kindergartenniveau: Immer wieder hätten die Deutschen ihm von ihrem Bedürfnis erzählt, „lieber auszuschalten“.

Was genau ausschalten? Nun, das verrät der Bundespräsident lieber nicht. Den Fernseher? Das Internet? Oder gleich die ganze Welt? Schnell, schnell, die Hände vor die Augen – und darauf hoffen, dass die Welt uns auch Weihnachten 2024 nur medial bedrängt – sofern wir dann noch in der Lage sind, durch unsere Finger zu blinzeln.

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Es ist wirklich deprimierend: Alles, was noch wächst in diesem Land, sind die Defizite der politischen Klasse in puncto geopolitischer Strategie und Lücken vorausschauenden außenpolitischen Handelns in den Top-Etagen der Regierung – sind Illusionen über den diplomatischen Einfluss in der Welt und Blindstellen eines geschichtlichen (Selbst-)Bewusstseins, das endlich Konsequenzen aus den Dimensionen der „Zeitenwende“ zöge.

Schon mitbekommen? Russlands regierender Menschenschlächter Wladimir Putin ist gerade dabei, den Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen, mitten in Europa, unter den Augen der EU – und wir sind schuldig durch Unterlassen. Russland hat die Gegenoffensive der Ukraine gestoppt. Die Militärs der Verteidiger haben nicht genügend Munition. Die Kampfmoral der ukrainischen Frontsoldaten sinkt im Hagel der russischen Artillerie und in der Kälte des zweiten Kriegswinters.

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von Daniel Goffart

Putin hat die Wirtschaft seines Landes auf einen langjährigen Abnutzungskrieg umgestellt und investiert Milliarden in neue Rüstungsgüter. Er exportiert Öl und Gas nach China, Indien, Europa, importiert Waffen aus Iran, Munition aus Nordkorea und westliche Waren und Technologien über die Türkei und andere Nachbarländer. Das Sanktionsregime des Westens ist mit Blick auf die Ukraine nicht wirkungslos, aber folgenlos – auch weil deutsche Unternehmen immer noch mit einem Mann im Geschäft sind, der Europa mit dem Atomtod gedroht hat: Shame on you!

Die Ukraine soll zerstört und ausradiert werden

Erst am Freitag hat Putin die Ukraine mit mehr als hundert Marschflugkörpern, Raketen und Drohnen angegriffen, offenbar vor allem militärische Ziele, um die Luftabwehr der Ukraine zu schwächen. Es dürfte der Auftakt sein zu einer dreimonatigen Demoralisierungskampagne mit schweren Angriffen auf Kraft-, Heiz- und Wasserwerke. Die Ukraine soll zerstört und ausradiert werden, weil sie sich dem Willen Moskaus widersetzt, das ist und bleibt das Ziel des Despoten im Kreml: Tod durch Eroberung. Tod durch Vernichtung. Tod durch Vertreibung. Die Ukrainer sollen dafür büßen, dass sie keine Kleinrussen sein wollen, sollen hungern, frieren, sterben.

Und militärisch sind die Fronten inzwischen zugunsten Russlands geklärt, daran ändern auch die offenkundigen Präzisionsmängel des russischen Kriegsmaterials und (russischen Angaben zufolge) gelegentliche Gegenattacken der Ukraine auf Belgorod nichts, die in ihrer Ziellosigkeit vor allem Vergeltungswillen, wenn nicht Verzweiflung ausdrücken.

Die Nato hat sich darauf festgelegt, dass der Krieg nicht auf russischem Boden stattfindet; Moskau allein verfügt über die Eskalationsdominanz; und der Westen verweigert der Ukraine seit 23 Monaten Waffen, mit denen sie annähernd eine militärische Symmetrie herstellen, die Versorgungslinien Russlands angreifen und in die Offensive kommen könnte.

Kurzum: Die Ukraine darf den Krieg nur erdulden, nicht gewinnen, nicht mal auf ihrem eigenen Territorium, denn von einigen sporadischen Symbolerfolgen abgesehen (Angriffe auf die Kertsch-Brücke und die Schwarzmeer-Flotte), ist sogar die Krim tabu: Ein Wunder, dass die Kampfmoral Kiews nicht schon längst gebrochen ist. Allen voran Deutsche und Europäer verschanzen sich immer noch und immer wieder hinter der Formel „Es darf keinen Diktatfrieden geben“ – statt alles dafür zu tun, dass es ihn nicht geben wird. Nicht mal zu einer neuen Munitionsfabrik hat es hierzulande gereicht. So viel zur „Zeitenwende“.

Zaungäste der Weltgeschichte

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Deutschland und Europa befinden sich in der Defensive. Und es spricht viel dafür, dass wir in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts nur noch Zaungäste der Weltgeschichte sein werden – wenn sich das Blatt nicht in den nächsten zwölf Monaten entscheidend wendet. Doch genau danach sieht es nicht aus. China und Russland stressieren über ihren engen Verbündeten Iran den Mittleren Osten; die USA sind nach dem Angriff der von Teheran unterstützten Hamas aus Israel doppelt gefordert, in der Ukraine und in Israel. Das schwächt die finanziellen und militärischen Kräfte der einstigen Supermacht.

Übrigens auch mit Blick auf Taiwan: Ein wirtschaftlich schwächelndes China verhält sich außenpolitisch maximal opportunistisch, an der Seite Russlands und Irans gewissenlos, um seine Kräfte zu schonen – und den USA dabei zuzusehen, wie sie sich weltpolizeilich verausgaben. Das Land hat unter dem Großen Vorsitzenden Xi Jinping nicht nur militärisch und ideologisch mächtig aufgerüstet, sondern auch seine Unabhängigkeit und Resilienz gestärkt, hortet offenbar Geld, Rohstoffe, Lebensmittel und wichtige Versorgungsgüter – um für den Fall eines Angriffs auf Taiwan alle Trümpfe in der Hand zu halten. Amerikanische Medien berichten, dass  Xi vor wenigen Wochen in San Francisco US-Präsident Joe Biden in einer Art Protokollnotiz mitgeteilt hat, dass die Einnahme Taiwans gewiss sei. Allein über den Zeitpunkt sei noch zu befinden.

Gewinnt in zwei Wochen, am 13. Januar 2024, die China-kritische DPP erneut die Wahl, dürfte Peking den militärischen Druck auf Taipeh einmal mehr erhöhen – und die vormals imperialen USA, die sich nach dem schändlichen Krieg gegen den Irak langsam aus den Händeln der Welt zurückziehen wollten, ironischerweise in den „imperial overstretch“ zwingen.

Die Kader um Generalsekretär Xi Jinping wissen genau, dass ihnen die Zeit für eine „friedliche Wiedervereinigung“ davonrennt: Die „alten Bande“ zu China verlieren in Taiwan an Spannkraft. Und das „Virus der Freiheit“ verbreitet sich schnell, gerade unter jungen Taiwanesen – weil die Vorzüge altaufklärerischer Normen unabweisbar sind und die Universalität ihrer Geltung nur gewaltvoll dementiert und gebrochen werden kann: Jeder Mensch hat das Recht, nicht in der Macht eines anderen zu stehen, nicht der Willkür von Potentaten, Kadern, Theokraten ausgeliefert zu sein.

Die politische Landschaft wird im Herbst nicht mehr dieselbe sein

Sind wir noch fähig zur (Selbst-)achtung unserer eigenen ideellen Werte? Auch diese Frage stellt sich 2024. Trumpistische Republikaner in den USA und sozialnationalistische Links-Rechts-Populisten in Europa spielen die (Überlebens-)Interessen der Ukraine inzwischen routiniert gegen die (Lebensstandard-)Interessen ihrer einheimischen Bevölkerungen aus. X-Chef Elon Musk baut eine Armee von „citizen journalists“ auf, die mit ihren Smartphones „der Wahrheit“ auf der Spur sein sollen – ein Frontalangriff auf die professionelle Verarbeitung und geprüfte Distribution nachrichtlicher Informationen.

Unzählige AfD-Politiker werden in sechs Monaten in die neuen Kreistage und Stadträte der neuen Bundesländer einziehen. Die Europawahl im Juni 2024 dürfte sich vielen Deutschen als „Denkzettelwahl“ empfehlen. Im September 2024 werden Björn Höcke und Jörg Urban den Rechtsradikalismus in Thüringen und Sachsen zur stärksten politischen Kraft küren – und nicht zögern, Sofortmaßnahmen zum Abbau der Demokratie einzuleiten. Die politische Landschaft des Landes wird im Herbst nicht mehr dieselbe sein. Womöglich gewinnen alle demokratischen Mitteparteien nicht mal mehr als die Hälfte aller Wähler gegen die AfD und „Sahra Wagenknecht“, das sozial-nationalistische Bündnis der Putinversteher, Deutschland-Zuerst-Claqueure und Liberalismus-Verächter.

In den USA hört ein solches Bündnis auf einen einzigen Namen: Donald Trump. Gewinnt der „Republikaner“ die US-Wahl im November, ist die Demokratie in den USA gefährdet, drohen Europa unruhige Zeiten, ist die Ukraine verloren. Dann drohen Kiew Vernichtung, Massaker, Massenflucht. Dann steht Europa nackt da, nicht nur militärisch, sondern auch politisch und ideell. In der Slowakei und in Ungarn blockieren die regierenden Russland-Freunde Robert Fico und Viktor Orban bereits weitere Ukraine-Hilfen. Aus den Sahel-Ländern ist Europa nach etlichen Militärputschen schon vertrieben, um dort russischen und chinesischen Interessen zu weichen. Der Migrationsdruck wird wachsen. Und China wird wissen: Von diesem Europa ist nichts zu befürchten.



Derweil halten die Mullahs fröhlich Einzug in den Kreis der BRICS-Staaten – ein Bündnis, das China als „Kraft für Frieden und Entwicklung in der Welt“ protegiert, um die UN, die USA, den Dollar, die Ideale Europas und die Institutionen des „Washington Consensus“ zu schwächen: an der Seite Russlands, das Europa zu seinem Feind erklärt hat und an der Seite des Iran, dessen Theokraten nichts sehnlicher wünschen als die Auslöschung Israels und den Tod aller Juden.

Allen Kriegen und Konflikten übergeordnet ist der bedrückende Befund, dass die Welt sich anno 2024 in einem Machtvakuum befindet – und dass dezidiert antiliberale Kräfte (China, Russland, Iran) und nationalopportunistische Multipolaristen (Südafrika, Saudi-Arabien, aber auch Brasilien) gegenwärtig die besseren Chancen haben, es zu füllen: weil (nur) sie es wollen.

Das sind doppelt schlechte Nachrichten, weil eine Schwächung des Multilateralismus einerseits die Durchsetzung einer „internationalen Agenda“ (etwa Armutsbekämpfung) und die Pflege „globaler öffentlicher Güter“ (Klimawandel) erschweren. Und weil die Idee der liberalen Demokratie schon allein deshalb an Kraft verliert, weil niemand mehr da ist, der sich durchsetzen kann.

Bedenklicher noch: Es ist dem Westen inzwischen selbst zweifelhaft, was genau er gegen wen verteidigen kann und soll. Die „liberale Weltordnung“, die faktisch nicht mehr liberal ist, seit Russland und China sie abschaffen wollen? Oder die „liberale Demokratie“ in einer Weltordnung, die keinen liberalen Regeln mehr folgt? Anders gefragt: Der liberale Westen sucht (sic!) seine Position in der Welt zu stärken? Gut so! Aber er tut es längst nicht mehr im Rahmen  einer Weltordnung, die als liberal zu bezeichnen wäre. Was also tun? Die deutsche Außenpolitik hat nicht einmal angefangen, auf diese Frage eine strategische Antwort zu versuchen.

Worum es ginge? In etwa darum, unser normatives Surplus nicht aufzugeben – und uns dennoch in die neuen Realitäten einzufinden. Konkret: Wir vertrauten unserem universalen Wertekompass und gäben auch seine Richtungsvorgaben nicht auf, wir agierten zugleich robust und zweckrational, um unsere Normen wenn möglich abzusichern, sollten sie in Nato- und EU-Staaten, aber auch mittelbar, in geografischer und politischer Nähe, etwa in der Ukraine oder in Israel, bedroht sein – wohlwissend, dass diese Sicherung auch militärischer Stärke bedarf und womöglich nicht immer gelingt.

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Vielleicht nimmt sich der Bundespräsident all dieser Themen ja in diesen Jahr an? Nur was, wenn Welt und Wirklichkeit uns bis dahin noch viel mehr aufgedrängt haben? Ach ja: einfach abschalten. Mehr denn je. Oder das alte Videoband noch mal abspielen. Wird schon passen. In diesem Sinne: Frohes neues Jahr allerseits!

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