Pflegeversicherung in Schieflage Bei der Pflege wird nur „feuerwehrmäßig gehandelt“

Fehlende Reformen der Pflegeversicherung: Pflegepersonal und Betroffene werden die Folgen zu spüren bekommen Quelle: dpa

Nach Corona und aufgeschobenen Reformen in der Pflegeversicherung erwarten deren Vertreter eine Milliardenlücke und steigende Kosten für Betroffene. 

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Die gesetzlichen Krankenkassen, die die Pflegeversicherung verwalten, sehen ein milliardenschweres Defizit und weiter steigende Kosten auf Hilfebedürftige und deren Angehörige zukommen. Die Situation für Fachkräfte in der Altenpflege sei nach wie vor schwierig, und für Betroffene klettere der Anteil der privat zu tragenden Kosten, weil über Jahre Entscheidungen verschoben worden seien, urteilte Vorstand Gernot Kiefer vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) am Donnerstag in Kremmen bei Berlin.

„Es gab ein bewusstes, massives Abschmelzen der Reserven der Pflegeversicherung in der Coronapandemie“, beschrieb er. Anders als bei Krankenhäusern und etwa beim Impfen habe der Staat sich bei zusätzlicher Ausrüstung für Pflegende und strengere Hygienevorkehrungen für Pflegebedürftige nicht mit Steuergeld beteiligt, beklagte der stellvertretende GKV-Vorstandschef. Wegen Corona seien die Ausgaben um insgesamt mehr als vier Milliarden Euro gestiegen.

Beim Pflegepersonal und bei den Betroffenen sei nun die Belastung groß, weil deren Löhne einerseits und deren von der Versicherung geleisteten Anteile über Jahre nicht entsprechend der Teuerung angepasst worden seien.

„Es geht hier schlicht um Menschen und ihre finanzielle Situation“, fasste Kiefer die Probleme aus Sicht der GKV zusammen. Die Belastung der Pflegefachkräfte sei mit Corona allgemein bekannt geworden, die Lage sei aber schon seit Jahren angespannt gewesen. Einmalige Boni hülfen kaum. Es fehle schon lange an Personal.

Auch für Betroffene sei zu wenig finanziell angepasst worden. Allein 2021 hätte beim mittleren Pflegegrad 3 das ausgezahlte Pflegegeld für betreuende Angehörige um 28 auf 573 Euro angehoben werden müssen. Das sei nicht geschehen. Stärker noch seien die 780.000 Menschen von hohen und noch steigenden Kosten betroffen, die in Heimen dauerhaft betreut würden. Sie zahlten mit 2.179 Euro privatem Anteil im Monat und im Bundesschnitt inzwischen deutlich mehr als sich viele leisten könnten.

Allein 466 Euro davon kämen zu Stande, weil die Länder nicht wie gesetzlich vorgeschrieben in die Einrichtungen investierten und diese Kosten dann auf die Bewohner umgelegt würden. Spitzenreiter beim monatlichen Eigenanteil in stationären Einrichtungen ist NRW mit 2.800 Euro Privatanteil im Monat. In Sachsen-Anhalt werden dagegen im Monat nur etwa 1.600 Euro privat fällig. Jeder und jede Dritte in stationärer Pflege sei deshalb in Deutschland inzwischen zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen, fünf Jahre vorher sei es noch jeder Vierte gewesen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) müsse dringend handeln, fordern die gesetzlichen Kassen, die 90 Prozent der Bevölkerung vertreten. Ein mittelfristiger Plan sei bei Lauterbach noch nicht zu erkennen: „Es wird feuerwehrmäßig gehandelt,“, sagte Kiefer. So sei ein Darlehen in Aussicht, wenn im Laufe des Jahres ein Defizit von erwartet 2,3 Milliarden Euro auflaufe. Das müsse aber zurückgezahlt werden.  

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Bei Verhandlungen über eine dauerhafte Entlastung der Pflegeversicherung von Leistungen, für die sie eigentlich nicht zuständig sei, habe Lauterbach mit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) keinen Erfolg gehabt. Dabei geht es etwa um die Corona-Mehrausgaben (rund vier Milliarden Euro) oder um Sozialversicherungsbeiträge, die überwiesen werden, wenn Angehörige für die Pflege zeitweilig aus dem Job aussteigen (rund 3,3 Milliarden Euro). „Es gibt keine Ergebnisse über eine dauerhaft stabile und sinnvolle Finanzierung“, beklagte Kiefer. Beide Ausgabenblöcke müsse die Allgemeinheit per Steuerzuschuss übernehmen, fordern die Kassen.

Wenn nichts passiere, müssten die Beiträge zum Jahresbeginn um ein Zehntel angehoben werden, prognostizierte Kiefer. Dann müssten 0,35 Punkte mehr überwiesen werden – das wären 3,4 Prozent vom Lohn. Für Kinderlose, die einen höheren Satz zahlen, stiege dann der Beitrag auf 3,75 Prozent vom Lohn.

Bereits vor Kiefer hatten andere Vertreter der Sozialkassen überschlagen, dass monatlich derzeit ein Defizit von 400 Millionen Euro auflaufe und die Reserven fast aufgebraucht seien. Eine bereits kurzfristig gewährte Überbrückungshilfe des Bundes von 1,2 Milliarden Euro reicht den Experten zufolge „höchstens“ bis zum Sommer.

Die jüngste Kostensteigerung in der Pflege kommt zu einem Gutteil zu Stande, weil die knappen Fachkräfte nun besser bezahlt werden. Einige der angekündigten Verbesserungen fürs Personal, also eine bessere Entwicklung des Lohns und Bezahlung nach Tarif, mehr Pflegekräfte und eine neue Personalbemessung pro Hilfebedürftigem, ist noch nicht eingepreist. Die Pflegeversicherung war 2021 ins Minus gerutscht, wobei zum Ausgleich Rücklagen genutzt wurden. Die Reserven sind aufgebraucht. Im Koalitionsvertrag haben die Ampelparteien eine „moderate“ Steigerung der Beiträge angekündigt.

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Kassenvertreter Kiefer zeigte sich ungeduldig gegenüber dem Gesundheitsministerium. „Herr Lauterbach hat uns gesagt, er sei im Zwischenspurt. Vielleicht schafft er es ja, bis zum Berlin-Marathon im September dafür konkurrenzfähig zu sein“. Schnelles wie langfristiges Handeln sei angesichts der Finanzen dringend geboten.

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