Sozialstaatsdebatte Steigen die Löhne wirklich kräftiger als das Bürgergeld?

Quelle: imago images

Der Anstieg des Bürgergelds um zwölf Prozent war verhältnismäßig, argumentiert eine Studie. Man darf aber die Kaufkraftverluste weiterer Gruppen nicht vergessen, klagen andere. Sind diejenigen, die arbeiten, die Dummen? Ein Faktencheck.

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Um 53 Euro stieg das Bürgergeld für alleinstehende Erwachsene im Januar 2023, auf 502 Euro monatlich. Anfang 2024 erhöhte es sich noch einmal um 61 auf 563 Euro im Monat – ein Plus von etwa zwölf Prozent. Sozialverbänden war das noch zu wenig. CDU-Chef Friedrich Merz zu viel. Auch Finanzminister Christian Lindner (FDP) nannte die Erhöhung „stark überproportional“ – er kündigte vorsorglich für Anfang 2025 „eine Nullrunde beim Bürgergeld“ an.

Zur Wahrheit gehört: Die Anpassung erfolgt automatisch, also ohne, dass der Finanzminister Einfluss nimmt. Sie basiert auf einem komplizierten Berechnungsschlüssel, der abbildet, wie sich bestimmte Verbraucherpreise und die Löhne entwickelt haben. Seit 2022 beinhaltet er zudem eine Schätzung, wie sich die Preise im zweiten Quartal des Folgejahres voraussichtlich verändern werden.

Und: Sowohl Lindners Liberale wie auch CDU und CSU stimmten der Bürgergeldreform samt diesem leicht veränderten Mechanismus zu. Aber was stimmt nun – war der Anstieg massiv? Oder fiel er zu gering aus?

Als verhältnismäßig beurteilen nun Forschende des Instituts Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen (IAQ) die Anpassung der Regelbedarfe. Man kann das wörtlich nehmen: Denn um zu diesem Schluss zu kommen, haben die Forschenden den Anstieg der Regelsätze ins Verhältnis zur Preis- und Lohnentwicklung der vergangenen Jahre gesetzt.



Für ihren Bericht setzten die Autorinnen und der Autor die Ausgangswerte aus dem Jahr 2005 bei jeweils 100 Prozent an – so erstellten sie eine Indexdarstellung. In der Grafik lassen sich damit die Zuwachsraten der einzelnen Werte ablesen.

Das Ergebnis: Die Nettolöhne und -gehälter seien bis 2023 um 59 Prozent, die Regelbedarfe um etwa 46 Prozent und die Verbraucherpreise um 43 Prozent gestiegen, schreiben sie. Verbraucherpreise und Regelsätze seien also hinter der Lohnentwicklung zurückgeblieben. Etwa seit 2014 beobachte man ein verstärktes Auseinanderdriften.

Zwischen 2005 und 2015 habe sich zudem ein Jahrzehnt lang die Kaufkraft der Leistungsbeziehenden verringert, schließen die Wissenschaftler: Denn die Anpassung der Regelbedarfe sei hinter der allgemeinen Preisentwicklung zurückgeblieben. Erst seit 2015 liege die Entwicklung ähnlich hoch, bevor 2020 und 2021 die Verbraucherpreise erkennbar weniger stark gestiegen seien als die Regelbedarfe.

„2022 dreht sich die Entwicklung dann wieder um – und zwar drastisch“, so steht es in dem Bericht: „Waren die Energiepreise bereits im Jahr 2021 angestiegen, kam es durch den Ukrainekrieg ab Februar 2022 zu einem weiteren starken Anstieg insbesondere auch der Preise für Nahrungsmittel und somit auch insgesamt der Inflation. Die Regelbedarfe blieben hinter dieser Entwicklung deutlich zurück.“ Das liege am Anpassungsrhythmus und der bis 2022 geltenden Anpassungsformel.

Lässt sich so die Kritik am Bürgergeld ausräumen?

Für die Autorinnen und den Autor jedenfalls ist ihr Fazit eindeutig: Erst mit der Regelbedarfserhöhung 2024 habe es eine Angleichung an die Nettogehälter des Jahres 2023 gegeben. Gleichzeitig sei keine Angleichung an die Nettogehälter des Jahres 2024 zu erwarten, denn die würden in diesem Jahr ebenfalls (in noch unbekannter Höhe) steigen. „Vor diesem Hintergrund fällt die Entwicklung der Regelbedarfshöhe, insbesondere in den letzten Jahren, nicht so massiv aus, wie es teilweise propagiert wird“, schließen sie.

Lässt sich damit alle Kritik am Bürgergeld und seiner Höhe ausräumen? Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wird derzeit nicht müde, zu betonen, dass die Leistung kein bedingungsloses Grundeinkommen sei.

Doch so einfach ist es nicht. Es gibt Gründe, warum die Debatte ums Bürgergeld so stark verfängt: kaum Wirtschaftswachstum, hohe Energiepreise, Krieg in der Ukraine, allgemeine Unsicherheit. Zudem sind Lohnerhöhungen von mehr als zehn Prozent – also im Rahmen der vergangenen Regelsatzerhöhung – für die meisten Menschen selten. Das schürt Neid.



Zumal die Frage, ob Einkommen durch Arbeit und staatliche Unterstützung in ausreichend Abstand zueinanderstehen, derzeit viele mit Nein beantworten. Auch die IAQ-Forscher weisen in ihrem Bericht darauf hin, dass nach wie vor ein beachtlicher Niedriglohnsektor in Deutschland bestehe.

Das wird besonders dort zum Problem, wo Wohnen sehr teuer ist. Wer Bürgergeld bezieht, dessen Heiz- und Wohnkosten übernimmt das Jobcenter (wenn sie in einem bestimmten Rahmen bleiben). Wer wenig verdient, aber gerade zu viel, als dass der Staat einspringt, muss diese selbst bestreiten.

Die Autorinnen und der Autor liefern zur Einordnung einen Vergleich: Regelbedarf eines Alleinstehenden für 2023 plus durchschnittliche Kosten der Unterkunft macht 502 plus 427 Euro, also 929 Euro. Dem stünden durchschnittliche Nettolöhne und -gehälter von 2417 Euro monatlich gegenüber. Das klingt nach einem merklichen Unterschied.

Verdienen Menschen weniger als durchschnittlich in einer Stadt mit teuren Mieten, fragen sie sich aber sicher eher, wie groß der Abstand vom eigenen Einkommen zu den Leistungen beim Bürgergeld eigentlich ist.



Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hält diesen jedenfalls für zu gering, zeigte unlängst eine Befragung des Demoskopie-Instituts Allensbach. Annähernd drei Viertel der Bevölkerung glauben, „dass das Bürgergeld in seiner derzeitigen Höhe viele Empfänger davon abhalte, sich eine reguläre Arbeit zu suchen“.

Und mehr noch: Besonders in den schwächeren sozialen Schichten sei mittlerweile die Überzeugung verbreitet, dass „diejenigen, die sich anstrengen und viel arbeiten, die Dummen sind“.

Arbeit lohnt sich also doch

Die IAQ-Wissenschaftler halten die Annahme, dass sich Arbeit beziehungsweise mehr Arbeit nicht lohne, bei genauem Hinsehen für „nicht haltbar“. Nur in (mehr oder weniger) konstruierten Einzelfällen könne das anders sein. Mit diesen konstruierten Fällen meinen sie Rechenbeispiele wie das einer vierköpfigen Familie aus München: Wenn beide Eltern mehr arbeiten und ihr Familieneinkommen von 3000 auf 5000 Euro brutto ausweiten würden, hätten sie trotzdem nur 32 Euro mehr zur Verfügung, zeigen Berechnungen des ifo-Instituts – weil Steuern und Abgaben steigen und Transfers wegfallen.

Auch wenn dieser Fall zunächst fiktiv ist. Real sind die vielen Leistungen – Bürgergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag, Unterhaltsvorschuss, Sachleistungen –, und, dass sie aufeinander wirken sowie mit zunehmendem Einkommen abgeschmolzen werden. Die Folge: Wer Unterstützung erhält und Arbeit aufnimmt oder mehr arbeitet, hat schon häufig wenig mehr oder sogar weniger Geld zur Verfügung als vorher.

Martin Werding, Professor für öffentliche Finanzen und Sozialpolitik an der Universität Bochum, glaubt nicht, dass sich Menschen deshalb gegen Arbeit entscheiden. „Aber jemand könnte durchaus sagen: Es lohnt sich nicht, mehr zu arbeiten.“ Vor allem Bürgergeld und Wohngeld müssten daher besser aufeinander abgestimmt werden.

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Werding, der als sogenannter Wirtschaftsweiser die Bundesregierung berät, verweist darauf, dass die Gruppe der Bürgergeldempfänger durch die Erhöhung des Regelsatzes Anfang des Jahres den im Vergleich besten Inflationsausgleich erfahren habe: „Das schafft eine gewisse Unwucht gegenüber Beziehern mittlerer und höherer Einkommen, die ihre Kaufkraftverluste relativ geduldig ertragen haben.“

Gehe es der Politik darum, mit einem solchen Schritt die Schwächsten zu schützen, sollte sie das auch aktiv kommunizieren, sagt er: „Und sie sollte genau so offen die Verluste anderer Gruppen anerkennen.“

Lesen Sie auch: „Der Staat kann kein Supermarkt sein, der allen alles zum Dauer-Niedrig-Preis anbietet“

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