Sozialstaats-Debatte „Es verfestigt sich die Annahme, dass sich arbeiten nicht mehr lohnt“

Quelle: imago images

Das Bürgergeld feiert erst Einjähriges, da fordern manche schon die Abschaffung. Zeit für eine Zwischenbilanz – und Ideen, wie die Grundsicherung zukunftsfähig wird.

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Als die Bundesregierung vor einem Jahr das neue Bürgergeld zum Januar 2023 beschloss, hatten wohl viele die Hoffnung, dass damit die Diskussionen um die Grundsicherung erst einmal abebben. Nach dem Karlsruher Haushaltsurteil, der Erhöhung um zwölf Prozent und einer Kostenexplosion von 3,25 Milliarden Euro schon 2023, stellen sich jetzt aber mehr denn je die Fragen: Ist der Regelsatz zu hoch? Schafft man zu wenig Arbeitsanreize? Oder braucht es gleich die Abschaffung des Bürgergeldes in der jetzigen Form, wie die CDU es fordert?

Hinzu kommen Umfragen wie die des Bundesinnungsverbands des Gebäudereiniger-Handwerks. Demnach hätten die Unternehmen große Sorge, dass das Bürgergeld mit der erneuten Erhöhung im Januar zunehmend in Konkurrenz zum Lohnerwerb tritt. Über ein Viertel der befragten Unternehmen gab demnach an, dass bereits mehrere Beschäftigte mit dem konkreten Verweis auf das Bürgergeld gekündigt oder zumindest eine Kündigung in Aussicht gestellt hätten.

Das Bürgergeld als Totengräber des deutschen Arbeitsmarktes? Zeit also, um eine Zwischenbilanz zu ziehen – auch wenn das gar nicht so einfach ist.



Eine wissenschaftliche Evaluation der Effekte des Bürgergeldes auf den Arbeitsmarkt gibt es bisher nicht. Das dürfte noch Jahre dauern. Und selbst dann werde man „nie richtig sagen können, welchen Anteil an der Entwicklung das Bürgergeld gehabt hat“, sagt Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „Wir haben keine Kontroll- oder Vergleichsgruppen.“ Eine kurze Einschätzung gibt der Ökonom aber dann doch: „Ich kann anhand der Statistiken nicht beobachten, dass eine Kündigungswelle durch das Land rollt.“

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Im Moment bekommen rund 5,5 Millionen Menschen in Deutschland Bürgergeld. Unter ihnen sind auch viele sogenannte Aufstocker und Kinder. Gänzlich ohne Arbeit sind unterm Strich etwa 1,7 Millionen. Klar ist: In Branchen, in denen traditionell die Löhne niedriger sind und die ohnehin schon kaum Fachkräfte finden, geht die Angst um, dass sich die Situation 2024 zuspitzt. Neben den Gebäudedienstleistern befürchtet das auch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA). Auf Anfrage sagt Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges, dass mit der Anhebung des Regelsatzes beim Bürgergeld um zwölf Prozent „keine hilfreichen Signale gesetzt“ worden seien. „Es muss sich lohnen, arbeiten zu gehen.“ Die Motivation der arbeitenden Mitte sinke, wenn der Abstand zwischen Sozialleistungen und Nettolohn geringer wird. 

Lohnt sich Arbeit noch?

Ängste wie diese seien es, die mit der Bürgergelderhöhung, der Inflation und dem Spardruck der Bundesregierung dazu führen, dass es nun zur großen Debatte um die Grundsicherung gekommen ist, sagt Alexander Spermann. Der Volkswirt lehrt an der FOM Hochschule in Köln sowie an der Universität Freiburg. Er meint: „Es verfestigt sich die Annahme, dass sich arbeiten nicht mehr lohnt.“ Zwar sagt auch Spermann, dass mit der Erhöhung des Bürgergeldes der Arbeitsanreiz abnehme. Vergessen werde aber, dass zum Ende der Hartz-IV-Zeit die Erhöhungen „skandalös lächerlich geringe Beträge“ waren. „Davon konnte man sich vielleicht zwei Espressi kaufen.“ 

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Dennoch: Es scheint einen Schritt zurück in Richtung der alten Hartz-IV-Denke zu gehen. „Der eigentlich abgeschaffte Vermittlungsvorrang wird jetzt wieder aus der Schublade geholt“, bilanziert Spermann. Denn um das Haushaltsloch zu stopfen, will die Bundesregierung beim Bürgergeld sparen. Dafür fällt der erst im Juli 2023 eingeführte Bürgergeld-Bonus in Höhe von 75 Euro monatlich dem Rotstift zum Opfer. Ihn bekamen Bürgergeldempfänger, wenn sie an Weiterbildungsmaßnahmen teilnahmen. Auch werden Sanktionen verschärft. Zudem sollen ukrainische Geflüchtete schneller in eine Arbeit vermittelt werden. Sinnvoll, wie Spermann sagt. „Auch neben einem Job können Sprachkurse absolviert werden.“ Ersparnis durch die Maßnahmen insgesamt: rund 750 Millionen Euro.



Mehr Anreize!

Für zum Beispiel Langzeitarbeitslose hält er den möglichst schnellen Weg zurück in eine Arbeit aber nicht für zielführend. „Wir haben bei Hartz IV gemerkt, dass diese Idee nicht nachhaltig ist.“ Die Gründe für Arbeitslosigkeit seien sehr individuell. Man müsse deshalb an die Ursachen gehen. Also lieber weiterbilden und qualifizieren, damit Menschen auch langfristig in einem Job bleiben. Das heiße aber nicht, dass man nicht auch die Arbeitsanreize verbessern sollte. „Es geht auch beides“, sagt Spermann.
Bleib dann die Frage, wie man wirklich dafür sorgt, dass der Anreiz zu arbeiten größer wird. Und da ist man beim ewigen Thema Hinzuverdienst. Denn die sogenannten Transferentzugsraten sind nach vielen Expertinnen und Experten zu hoch. Aktuell dürfen Bürgergeldempfänger, die nebenbei arbeiten, die ersten 100 Euro des Verdienstes ganz behalten. Hinzu kommen vom Verdienst zwischen 100 und 520 Euro dann 20 Prozent und vom Verdienst zwischen 520 Euro und 1000 Euro 30 Prozent. Darüber bis 1200 Euro beziehungsweise 1500 Euro bei Alleinerziehenden sind es noch 10 Prozent, die von diesem zusätzlichen Einkommensabschnitt behalten werden dürfen.

Sowohl IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer als auch Spermann sagen, dass die Bundesregierung hier dringend etwas ändern muss. Denn im Moment sei es so erst gar nicht attraktiv, in Vollzeit zu arbeiten. Und: Die Bundesregierung würde Geld sparen. 1,3 Milliarden Euro, wie das Ifo-Institut errechnet hat. Deswegen sagt Schäfer: „Wir haben hier kein Erkenntnisproblem.“ Auch Spermann meint, dass die Aufgabe für 2024 sei, die Arbeitsanreize deutlich zu verbessern. Warum das bisher nicht geschieht? Könne er sich nicht erklären. „Offensichtlich fehlt der Glaube, durch mehr Arbeitsanreize Menschen in Arbeit zu bringen.“ 

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Insgesamt hält für Spermann die Umstellung von Hartz IV auf das Bürgergeld aber nach wie vor für den richtigen Weg. „Das fängt beim Namen an und hört damit auf, dass jetzt mehr Menschen weitergebildet statt möglichst schnell in den Arbeitsmarkt gesteckt werden.“ Aber: „Es gibt immer noch viel zu tun.“ Wenn die Bundesregierung also noch einen guten Vorsatz für 2024 braucht: Die Reform des Bürgergeldes wäre einer. 

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