Streit um Taurus und Bodentruppen „In Zukunft würde ich beim Thema Bodentruppen nichts ausschließen“

Andrij Melnyk war Botschafter der Ukraine in Deutschland. Quelle: dpa

Andrij Melnyk ist wütend über Scholz‘ Taurus-Absage an die Ukraine. Der Kanzler sei starrköpfig, die Entscheidung vernunftwidrig, sagt der frühere Botschafter in Berlin. Mehr Sympathien hat er für Macrons Vorstoß.  

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WirtschaftsWoche: Herr Botschafter Melnyk, Bundeskanzler Scholz hat eine Taurus-Lieferung an die Ukraine am Montag kategorisch ausgeschlossen. Wie enttäuscht sind Sie über diese Entscheidung?
Andrij Melnyk: Mir bleibt da die Spucke weg, Mann! Ich bin einfach wütend und fassungslos. Seit zehn Monaten haben wir mit triftigen Argumenten gekämpft, um den Kanzler zu überzeugen, Taurus freizugeben. Bis zur letzten Minute hofften die Ukrainer, dass der gesunde Menschenverstand die Starrköpfigkeit überwinden wird. Alles vergeblich. Am meisten enttäuscht sind aber ukrainische Soldaten an der Front, die täglich – auch wegen dieser vernunftwidrigen Verweigerung – die Zeche zahlen und ihr Leben verlieren müssen. Das ist sehr traurig und bitter.

Kanzler Scholz verweist darauf, dass „deutsche Soldaten an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein dürfen“. Auch eine Ausbildung von ukrainischen Soldaten an dem System in Deutschland schließt er aus, Deutschland dürfte auch nicht indirekt zur Kriegspartei werden. Ist diese Begründung für Sie nachvollziehbar?
Dieses Scheinargument ist an den Haaren herbeigezogen und wurde von Militärexperten widerlegt. Die Ausrede, dass Deutschland durch die Taurus-Lieferung angeblich zur Kriegspartei wird, ist absurd und vorgeschoben. Putin braucht gar keinen Grund, um die Deutschen zum Kriegsgegner zu erklären. Der Kreml fabuliert seit zwei Jahren, dass die Bundesrepublik angegriffen werden muss. Das ist alles Quatsch. Dass dennoch panische Angst in der deutschen Bevölkerung geschürt wird, ist unnötig und unverantwortlich.

Welchen Unterschied würde eine Taurus-Lieferung für die Ukraine machen?
Die Ukrainer haben nie behauptet, dass der Taurus eine Art Wunderwaffe oder sogar kriegsentscheidend wäre. Ein wahrer Gamechanger wäre es, wenn unsere westlichen Verbündeten, auch die Deutschen, nicht Dutzende, sondern Hunderte und Tausende Panzer, Artilleriegeschütze, Flugabwehrsysteme rechtzeitig geliefert hätten, wenn die ununterbrochene Munitionsversorgung in Millionenhöhe sichergestellt worden wäre, wenn die Ukraine Hunderte moderne Kampfjets fünfter Generation wie F-22 und F-35 oder zumindest alle verfügbaren älteren Flugzeug-Modelle wie Eurofighter, Gripen, Tornado erhalten hätte.

Zur Person

Aber dennoch pochen Sie ja auf die Taurus-Lieferung.
Klar ist: der Taurus würde – wenn es um Hunderte Flugkörper ginge – eine ganz neue Qualität der ukrainischen Kriegsführung bedeuten und uns eine Reihe strategischer Vorteile auf dem Schlachtfeld bringen, vor allem, um russische Kriegslogistik zu brechen oder die Schwarzmeerflotte unschädlich zu machen.

Ganz andere Töne sind aus Frankreich zu hören, wo Präsident Emmanuel Macron nach dem Treffen mit Scholz und anderen EU-Partnern Bodentruppen in der Ukraine nicht mehr ausschließt. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß?
Wenn man ukrainische Soldaten salopp fragen würde, ob sie es – aus rein militärischer und menschlicher Sicht – begrüßen würden, dass sie nicht nur mit modernsten Waffensystemen unterstützt werden, sondern auch mit Bodentruppen, wäre sicher niemand dagegen. Sie würden ihren westlichen Kameraden sicher auch nicht sagen: „Ach nee, danke, wir schaffen es schon alleine.“ Aber so lobenswert Macrons Vorstoß ist – rein politisch betrachtet, ist er realitätsfern und abstrakt.

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von Angelika Melcher

Sie finden Macrons Vorstoß also theoretisch gut, aber praktisch schlecht?
Man sollte mit einer solch sensiblen Materie sehr behutsam umgehen, um die Menschen in Europa nicht unnötig zu verscheuchen und die bestehende Solidarität nicht auf Spiel zu setzen. Fakt ist: die ukrainische Regierung hat unsere Partner nie aufgerufen, ihre Soldaten zu entsenden. In Zukunft würde ich aber auch beim Thema Bodentruppen nichts ausschließen.  

Macron schließt Bodentruppen nicht aus, Scholz lehnt eine Taurus ab: gegensätzlicher könnten die französische und deutsche Position kaum sein. Wie problematisch ist es aus Ihrer Sicht, dass zwei der einflussreichsten EU-Länder nicht mit einer Stimme sprechen, wenn es um die Unterstützung für die Ukraine geht?
Natürlich wünschen wir uns, dass unsere deutschen und französischen Freunde eine gemeinsame Marschrichtung hätten und im Gleichklang agieren würden. Dass es eine starke Konkurrenz gibt, wer in puncto militärische Hilfe vorne liegt, ist aus ukrainischer Sicht übrigens gar nicht schlecht, weil sich die beiden einander anspornen, noch mehr zu tun.
Frankreich hat sich aber bisher offensichtlich gar nicht von Deutschland anspornen lassen. Die Bundesrepublik ist gemessen an der absoluten Höhe der Hilfszahlungen der größte Unterstützer in der EU mit rund 17,7 Milliarden Euro, Frankreich gehört mit rund zwei Milliarden Euro zu den Ländern mit den kleinsten Hilfspaketen.  
Wenn ein Land nur damit prahlt, dass seine Unterstützung tipptopp ist, sich auf den Lorbeeren ausruht und auf das andere Land mit dem Finger zeigt, bringt das unseren Verteidigungskampf gar nicht weiter. Was wir brauchen, ist eine sehr enge Abstimmung zwischen Berlin und Paris und eine reibungslose Koordination bei schneller Herstellung und Lieferung von Waffen und Munition für die Ukraine.

Die EU wollte bis März 2024 eine Million Artilleriegeschosse an die Ukraine liefern, verfehlt dieses Ziel aber deutlich, bisher wurde nur knapp ein Drittel der versprochenen Menge zusammengekratzt. Nun hat Tschechiens Präsident Petr Pavel angekündigt, auch außerhalb der EU in Ländern wie der Türkei, Südafrika und Südkorea kurzfristig 800.000 Schuss organisieren zu können. Sind Sie zuversichtlich, dass diese Beschaffung gelingt – obwohl etwa Südafrika zu den so genannten Brics-Staaten gehört?
Im Moment ist es schwer zu sagen, ob diese begrüßenswerte Initiative von Erfolg gekrönt wird, insbesondere wenn es um den Globalen Süden geht. Diese Staaten wollen keine Sanktionen des Westens gegen Russland unterstützen, sondern weiter „business as usual“ betreiben. Das hat Moskau geholfen, all die Schlupflöcher zu nutzen und die Folgen der Sanktionspolitik spürbar abzufedern.



Das beobachten Sie als Botschafter in Brasilien selbst vor Ort?
Ja, ausgerechnet 2023 hat Brasilien russische Waren im Wer von 11,1 Milliarden Dollar importiert – das ist ein Rekordwert. Auch Waffenlieferungen für die Ukraine bleiben bis heute ein Tabuthema, was sehr enttäuschend ist. Daher appellieren wir an die USA und die EU, ihre viel zu nachsichtige Politik gegenüber dem Globalen Süden zu korrigieren und alle verfügbaren Hebel und Mittel einzusetzen, um diese Länder auf die richtige Seite der Geschichte zu ziehen.

Die Ukraine konnte zuletzt die wichtige Stadt Awdijiwka nicht halten. Wie schwer werden die nächsten Wochen und Monate für die ukrainischen Truppen?
Die Lage an der Front ist wohl die schwierigste seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs. Die fehlende Munition und der unzureichende Nachschub von Waffen aus dem Westen sind die wichtigsten Faktoren für diese sehr dramatische Situation. Russland nutzt sein Vorrücken sehr klug zu Propagandazwecken aus – und zwar in doppelter Hinsicht.

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Was meinen Sie damit konkret?
Russland nutzt das Vorrücken propagandistisch als Beleg für seine angebliche Unbesiegbarkeit und auch dafür, um den Unterstützungswillen im Westen zu brechen. Russland kennt sich aus in der psychologischen Kriegsführung. Die große Frage ist, wie die Regierung und die Öffentlichkeit in Deutschland und Europa darauf reagieren: ob sie in Panik verfällt – oder, wie wir hoffen, den Ernst der Stunde endlich erkennt und die militärische Hilfe verzehnfacht.

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