Tauchsieder
Quelle: dpa Picture-Alliance

Das ist keine Regierungskrise, sondern ein Stellungskrieg intellektueller Faulenzer

Zwei Jahre nach dem Start der „Fortschrittskoalition“ beten SPD, FDP, Grüne und Union sich ihre alten politischen Katechismen vor. Wir erleben keinen Showdown, sondern den Shutdown der Janosch-Koalition. Eine Kolumne.

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Jeder kennt das Kinderbuch von Tiger und Bär (und der Tigerente), die nach Panama aufbrechen, ins Land ihrer Träume – dorthin, wo alles größer und schöner und besser sein muss. Die drei Freunde kennen den Weg nicht, aber egal, sie brechen auf, das Ziel wird zum Weg, der Weg wird zum Ziel, und nach langer Suche kehren der Tiger und der Bär und die Tigerente dorthin zurück, von wo sie einst aufgebrochen waren. Natürlich sind Haus und Hof inzwischen verwittert, aber je nun, die drei blicken nach ihrer Reise mit frischem Blick auf ihr altes Zuhause, sie erkennen es nicht mehr wieder – und wissen sich angekommen im Land ihrer Träume. Sie sind dankbar und glücklich – und reparieren ihr Haus.

Die Ampelregierung ist vor genau zwei Jahren als eine Art Janosch-Koalition gestartet: voller Aufbruchslust und Findungseifer, ihr „Panama“ war ein olympisches Deutschland, ein Land des internalisierten Komparativs, das ständig unterwegs ist ins Höhere, Schnellere, Weitere. Entsprechend war im Vertrag der „Fortschrittskoalition“ exakt 93 mal vom „Besser“ die Rede.

Und das Kompositum „neu“ kam sogar 251 Mal vor: „Wir haben Lust auf Neues“ hieß es da, man wollte „neue Impulse setzen“, „eine neue Dynamik auslösen“, die Deutschen „ermutigen, Neues zu wagen“, eine „neue Kultur der Zusammenarbeit etablieren“, denn das Land musste seine „ökonomische Stärke neu begründen“, weil die Wirtschaft „einen neuen Aufbruch“ brauchte…“, so ging es in einem fort – und die Hoffnung war groß, dass die „beispiellose Transformation“ des Landes ja vielleicht sogar einen ideellen Energieüberschuss erzeugen würde, so Vizekanzler Robert Habeck: „eine neue Art Stolz“, einen „Veränderungspatriotismus“: Die Deutschen sollten verliebt sein ins dynamisch Bewegte und transitorisch Gelingende.

Inzwischen sind auch die drei Ampelfreunde, jeder weiß es, wieder dort angekommen, von wo sie einst aufgebrochen waren. Allerdings sind Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner längst keine Fortschrittsfreunde mehr, die nach 24 Monaten des politischen Unterwegsseins noch einen frischen Blick auf ihre Heimat werfen könnten. Im Gegenteil: Ganz gleich, ob Kanzler, Vize und Finanzminister sich in den nächsten Tagen noch auf einen Haushalt für das Jahr 2024 verständigen können oder nicht: Sie haben das Land gemeinsam aufbruchsmüde regiert, obwohl es abbruchreifer denn je ist mit seinen verwitterten Bahnstrecken, Brücken und Schulen, mit all den Baustellen, die dringend bearbeitet gehörten (Klima, Bundeswehr, Energie, Verkehr, Digitalisierung, Migration, Bildung, Populismus…) – und sie sind nicht mehr fähig zur gemeinsamen Reparatur und Renovierung des Landes.

Man war eben doch nicht zum Besseren unterwegs, um das Bewährte fantasievoll zu erneuern. Sondern hat mit viel Fantasiegeld einen kurzen Ausflug ins Reich der Illusionen unternommen – nur damit alle Parteien wieder besser denn je durch die Brille ihrer jeweiligen altprogrammatischen Vorurteile an den Erfordernissen der Zeit vorbeisehen können. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht nur den finanziellen Selbstermächtigungswahn der Ampelregierung gestoppt und auch nicht nur aufgedeckt, dass das rot-grün-gelbe Projekt eine rein geldgebundene Addition von Unvereinbarkeiten war: Sozialstaatsausbau plus Investitionsoffensive plus Schuldenbremse gleich Ampelausfall.

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Vielmehr legen die Karlsruher Richter die Fundamente einer politischen Elementarkrise offen, eine umfassende Rat-, Ideen- und Fantasielosigkeit der politischen Mitteparteien. Zwei Jahre nach dem Start der „Fortschrittskoalition“ beten sich SPD, FDP, Grüne und Union nurmehr ihre politischen Katechismen des 20. Jahrhunderts vor: „Leistung muss sich wieder lohnen“ und „man darf jetzt nicht die Krise hineinsparen“ und „ein ‚sozialer Kahlschlag“ ist mit uns nicht drin“. Wir erleben keine Regierungskrise. Sondern einen Stellungskrieg intellektueller Faulenzer. Man redet das Land im Namen der „Menschen da draußen“ nicht nur veränderungsmüde, um dem „Normalbürger“ Veränderungen zu ersparen – sondern vor allem um sich selbst zu schonen und sein defizitäres Weltbild zu stabilisieren.

Kurzum: Den politischen Parteien in Berlin gebricht es an Ambiguitätstoleranz – an der Fähigkeit, zwei simple Aussagen mit dem Wort „und“ zu verbinden – an der Kompetenz, aus dem typisch modernen Nebeneinander widerspruchsvoller Wahrheiten sinnvolle Sätze zu bilden. Die Politiker der FDP und Union zum Beispiel sind nicht imstande, zu sagen: „Finanzielle Nachhaltigkeit ist ein sehr wertvolles Gut – und natürlich könnte Deutschland seine Schuldenquote erhöhen, ohne seine Kreditfähigkeit zu riskieren.“ Kein Grüner bringt über die Lippen: „Eine klimaneutrale Wirtschaft ist unser oberstes Ziel und erfordert natürlich nicht unendlich viele staatliche Investitionsmilliarden.“

Kein Sozialdemokrat steht auf und sagt: „Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft, auf die wir stolz sein können – und er bedarf dringend der Konzentration auf die, die wirklich auf ihn angewiesen sind.“ Deshalb bleibt es dabei: Sozialstaatsausbau plus Investitionsoffensive plus Schuldenbremse gleich Ampelausfall. Schlimmer noch: Nimmt man die Friedrich-Merz-Union dazu, muss man noch ein Minus hinzurechnen: Schluss mit Fortschritt, Veränderung, Transformation; jetzt sind wieder „Solidität“, „Stabilität“, „Augenmaß“ gefragt.

Anders gesagt: Die Republik ist zwei Jahre nach dem Ende der Mehltau-Merkel-Ära schon wieder reif für eine Große Koalition der Wirklichkeitsflüchtigen, die nicht daran interessiert sind, „die Moderne zu reparieren“ (Bruno Latour) und das Land für die Zukunft zu rüsten, die das gut kalkulierte Risiko meidet und den Menschen nichts zumutet – um alle allgemeinen, abstrakten, höheren Ziele (etwa lebenswerte Innenstädte oder gesunde Ernährung) als Angriff auf die Lebensgewohnheiten des „Normalbürgers“ („Kampf gegen das Auto“, „Recht auf Bratwurst“) verunglimpfen zu können.

Es ist grotesk, dass die vier Mitte-Parteien sich nicht angesichts einer sehr moderaten Schuldenquote Deutschlands auf ein Sondervermögen Transformation, auf eine Reform der Schuldenbremse und auf eine Unterscheidung zwischen investiven und konsumtiven Ausgaben einigen können. Es ist eine Torheit angesichts des Imperialismus Russlands, der militärischen Muskelspiele Chinas und eines mutmaßlichen Wahlerfolgs Donald Trumps in den USA, nicht massiv in die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine und die Verteidigungsbereitschaft Europas zu investieren. Es ist lächerlich, wenn eine SPD sich nicht mehr als exklusive Staats-Anwalt der Aufstiegswilligen versteht, sondern immer neue Ansprüche, Entlastungen und Geldgeschenke für Wählergruppen erfindet – und dafür auch noch Dankbarkeit (Wählerstimmen) erwartet.

Und es ist absurdes Theater, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Klimakonferenz in Dubai die Verdreifachung des Ausbaus Erneuerbarer Energien bis 2030 fordert, während EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zur gleichen Zeit in Peking China maßregelt, doch bitte Überkapazitäten in den Bereichen Solarenergie, Windkraftanlagen und E-Autos abzubauen. Es ist inzwischen fast schon eine Gewissheit, dass Europa im Jahr 2050 vor allem mahnende Worte und Steuerungsvorschläge zur beizeitigen Lösung der Klimakrise beigetragen haben wird, während es in China vor allem subventionierte Konzerne und in den USA steuerentlastete Unternehmen gewesen sein werden. Aber klar: Die industriellen Kerne der Zukunft und gut bezahlte Arbeitsplätze, Resilienz in einer systemkonkurrenten Just-in-case-Economy und ein konsequentes De-Risking angesichts der aggressiven Bündnisse von Antidemokraten, Potentaten und Theokraten weltweit – was spielt das schon für eine Rolle, wenn man sich hierzulande nur ordnungspolitisch rein und schuldenbremsenrechtlich sauber wähnen kann.

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Wir sind gegenwärtig nicht Zeuge eines Showdowns der deutschen Regierung. Sondern eines Shutdowns des Veränderungswillens. Die Republik ist nicht wegen des Verfassungsgerichts blockiert. Sondern politintellektuell gelähmt. Und daran ändert sich auch nichts, wenn über dem Kanzleramt in den nächsten Tagen weißer Rauch aufsteigen sollte.

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