Tauchsieder
Scholz bleibt Scholz

Olaf, der Stolze

Putin metzelt und mordet, vertreibt Millionen, verheert die Ukraine, erniedrigt sein Land – aber Macron sorgt sich, Russland könnte sich gedemütigt fühlen. Und Kanzler Scholz? Findet sich großartig. Ein Trauerspiel.

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Rund 100 Tage verheert Russland nun schon die Ukraine. Rund 100 Tage liegen die besten Stunden des Kanzlers in der politischen Bearbeitung des Krieges nun schon zurück. Olaf Scholz hat viel erreicht an der Seite der USA und der EU, der G7-Staaten und der Nato-Nationen: scharfe Sanktionen gegen Russland, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, deutsche Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet. Aber er führt weder die Ampelkoalition noch Deutschland, geschweige denn Europa in dieser Krise. Olaf Scholz hat mit Blick auf die eigene Partei viel durchgesetzt in diesen Wochen. Aber er er hat mit Blick auf die Weltpolitik nichts vorangetrieben. Olaf Scholz hat gleich zu Beginn des Krieges alles Nötige gesagt. Aber er musste in der Folge permanent von Fachpolitikern im Bundestag, Osteuropaexperten und europäischen Regierungschefs genötigt werden, die politischen Konsequenzen aus der diagnostizierten „Zeitenwende“ zu ziehen. 

Olaf Scholz hat vor 100 Tagen gesagt: „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht Recht brechen darf… oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“ Und er hat seither in Serie Signale der Schwäche gesendet, während Russlands Diktator Wladimir Putin abermals Grenzen in Europa verschob. Scholz hat die Ukraine nicht entschlossen mit Waffen beliefert und ohne Not Embargos ausgeschlossen. Er hat sich nicht zu einem Besuch in Kiew aufraffen können, statt dessen regelmäßig in Moskau angerufen und im Kreml um Frieden gebarmt, er schließt einen „Sieg“ der Ukraine bis heute rhetorisch aus – und versichert dem Aggressor bei jeder Gelegenheit, er, Scholz, habe Angst vor einer Eskalation des Krieges und einem Atomschlag Russlands.

Anders gesagt: Olaf Scholz ist Bundeskanzler des größten Landes in Europa. Aber noch lange kein Staatsmann kraft Autorität und Souveränität, geschweige denn Führungsstärke und Macht. Im Gegenteil. Ohne die USA, ihre Waffen und Aufklärungssysteme, wäre die Ukraine längst ausradiert, hätte das Land den Krieg und seine Souveränität schon verloren - wäre die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren in Europa gebrochen. Mit Deutschland (und Frankreich) wiederum soll die Ukraine den Vormarsch der Russen stoppen und den Krieg erdulden, ihn aber nicht wenden, schon gar nicht gewinnen: „Wir müssen für den Frieden arbeiten“, insistiert Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, dürfen Russland bloß nicht „demütigen“ - aber natürlich darf es auch „keinen Diktatfrieden“ zu Lasten der Ukraine geben, sagt Scholz: „Das wird die Ukraine nicht akzeptieren – und (das werden) wir auch nicht.“ 

Kurzum: Europa drängt auf ein Remis. Und Scholz täuscht die Deutschen, wenn er mit bebender Stimme insinuiert, allein die Ukrainerinnen und Ukrainer entschieden über die Ukraine – das ist eine Fiktion, schon allein deshalb, weil die die Ukraine ohne die Waffen aus dem Westen gar nichts mehr entscheiden könnte. Aber natürlich auch deshalb, weil der Westen inzwischen ziemlich offen seine Kriegsziele kommuniziert. Das Kriegsziel in Berlin und Paris zum Beispiel besteht offenbar darin, Putin mit Hilfe der USA vor die Doppelwand ukrainischen Behauptungswillens und westlicher Waffensysteme laufen zu lassen, damit die Ukraine mit Russland und Russland mit den USA und der EU eine Befriedung des Konflikts erarbeiten kann: „Ernsthaft verhandeln“, so Scholz, „wird Putin nur, wenn er merkt, dass er die Verteidigung der Ukraine nicht brechen kann.“

Aber was, wenn Scholz und Macron die Moral der Ukrainer auf Dauer schwächten, weil sie ihnen nur gerade so viele Waffen zukommen ließen, um nicht unterzugehen - nicht aber genug, um erfolgreiche Gegenoffensiven zu lancieren? Putin spekuliert seit mindestens sechs Wochen darauf, die Ukraine, zu „brechen“. Er massiert seine militärischen Kräfte im Donbass, lässt täglich viele hundert Raketen auf die feindlichen Linien und die Zivilbevölkerung niederregnen, führt keinen Vernichtungsfeldzug mehr gegen das gesamte Land, sondern einen extensiven Abnutzungs-, Zermürbungs- und Terrorkrieg auf minimiertem Raum – mit dem Ziel maximaler Zerstörung und Demoralisierung auf der Basis schierer Feuerkraft. Putin will vorerst Luhansk und Donezk erobern, und er wird dieses Ziel wahrscheinlich erreichen, sollten die schweren Waffen der USA und Europas erst in ein paar Wochen in der Ukraine eintreffen: Die Zahl der Toten und Verletzten auf Seiten der Verteidiger ist dem Vernehmen sehr hoch.

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Man würde daher schon gern wissen, aus welcher Quelle Olaf Scholz seine Selbstzufriedenheit bezieht. Wie er etwa zu dem Schluss kommt, Putin habe „all seine strategischen Ziele“ verfehlt. Denn tatsächlich ist es so, dass Putin nach dem  erfolglosen Angriff auf Kiew vorerst recht viel erreicht hat mit seinem „verbrecherischen Krieg“ (Scholz). Er hat rund 20 Prozent der Ukraine erobert, eine Fläche so groß wie Österreich und die Schweiz. Er hat das historische „Neurussland“ abzüglich des Gebietes rund zum Odessa „heim ins Reich“ geholt, lässt in den eroberten Gebieten den Rubel rollen und russische Pässe verteilen. Er steht kurz vor der erobernden Vernichtung und vernichtenden Eroberung des Donbass. 

Und Westeuropa? Ist seit Wochen damit beschäftigt, mit den Mitteln der Kreml-Astrologie die Grenze zu markieren, ab der Putin meinen könnte, sich gedemütigt zu fühlen; eine Grenze, die Putin nach Belieben zu seinen Gunsten verschiebt - und das längst nicht mehr nur mit dem routinierten Verweis auf sein Atomwaffenarsenal, sondern auch auf „russische“ Territorien auf dem Gebiet der Ukraine. Eine Rückeroberung der Krim (dank westlicher Waffenlieferungen) oder auch nur der Gebiete jenseits der alten „Kontaktlinie“ im Donbass ist daher schon heute praktisch ausgeschlossen - auch weil Macron und Scholz dem Mann im Kreml permanent versichern, ihn nicht „demütigen“ zu wollen.



Das Maximum, was die Ukraine Stand heute erreichen kann (und von der EU toleriert werden dürfte), scheint der status quo ante seit 2014 - das weiß übrigens auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der Russland in diesem Sinne schon vor zwei Monaten einen Waffenstillstand anbot. Auch der amerikanische Senior-Super-Diplomat Henry Kissinger mahnt inzwischen, dass alles, was über eine Wiederherstellung des prekären Zustands vor dem 24. Februar 2022 hinausgehe, als „Krieg gegen Russland“ aufgefasst werden müsse. Im Umkehrschluss bedeutet das: Macht bricht Recht. Putin kann diesen Krieg (militärisch) nicht (mehr) verlieren. Und die Ukraine nicht (mehr) „gewinnen“ innerhalb ihrer rechtmäßigen Grenzen.

Nicht mehr – das bedeutet: Die Chance war durchaus da, zumal Putin nach den ersten vier Kriegswochen schwächelte. Aber sie wurde nicht genutzt. Die USA, Europa und der Westen haben gleich zu Beginn des Krieges eine rote Linie gezogen: keine Flugverbotszone, keine Nato-Soldaten, keine Kriegsbeteiligung. Das war klug. Die Nato demonstrierte eine zu allem bereite Defensivität. Aber der Westen hat Putin nicht zugleich von Anfang an klargemacht, dass er die Ukraine diesseits der „roten Linie“ militärisch maximal unterstützt, um dem Kremlchef „Grenzen zu setzen“ (Scholz). 

Dieses Zögern hat für die Ukraine einen hohen militärischen und für den Westen einen hohen politischen Preis. Seither definiert Putin, welche gegnerischen Waffen er zu je gegebener Zeit für tolerabel hält und welche nicht. Seither massiert und intensiviert Putin den Krieg, um vor dem Eintreffen der Waffen möglichst viele Geländegewinne zu erzielen – und um zu verhindern, dass „sich rohe Gewalt nicht als Mittel der Politik durchsetzt“ (Scholz). Und seither ist der Westen strategisch geschwächt, denn das Risiko einer Eskalation(sdrohung) seitens Putin steigt nicht, weil der Westen der Ukraine schwere Waffen liefern würde, sondern weil der Westen der Ukraine verzögert schwere Waffen liefert, die militärische Unterstützung der Ukraine nach und nach hochfährt - was Putin als zunehmende Einmischung der westlichen Bündnispartner empfinden und zurückweisen kann. 

Aus welcher Quelle bezieht Olaf Scholz seine Selbstzufriedenheit?

Noch einmal also: Aus welcher Quelle bezieht Olaf Scholz seine Selbstzufriedenheit? Er hat Putin seine Weltkriegsangst kommuniziert, stellt völlig abwegige historische Vergleiche aus der kriegslüsternen Schlafwandler-Zeit vor dem Ersten Weltkrieg an („Ich bin nicht Kaiser Wilhelm“) und fragt sich auf Twitter, ob „Gewalt mit Gewalt bekämpft werden“ darf. Er ruft bei Putin durch, um sich für den Fall der Lieferung schwerer Waffen vom Kremlchef bedrohen zu lassen - und knallt dem Bundestag eine Woche später eine detaillierte Lieferliste auf den Tisch, nur weil er das „dahergeredete Zeug“ des Oppositionsführers Friedrich Merz nicht mehr ertragen kann: „Das ist eine hochwirksame, eine hochschwere Waffe… zwölf der modernsten Panzerhaubitzen… das Abschießen von Flugzeugen…, das modernste Flugabwehrsystem.“ Also was jetzt? Gestern noch: Vorsicht, Atomkrieg? Und heute: Who the fuck is Putin? Nicht ihr Ernst, Herr Bundeskanzler!

Scholz preist sich auch permanent seiner ausgezeichneten Kontakte zu US-Präsident Joe Biden. Er stellt gern die Kongruenz zwischen Washington und Berlin ins politische Schaufenster, lobt hymnisch den „sehr lesenswerten und wohldurchdachten“ Aufsatz Bidens in der „New York Times“ - bringt aber selbst seit Monaten kein klares Wort über die Lippen.

Biden hat Putin mal einen „Schlächter“ genannt - während Scholz Moskau seit drei Monaten damit kalmiert, der Ukraine bloß nicht versehentlich einen „Sieg“ im Sinne der erfolgreichen Landesverteidigung zu wünschen. Biden sagt: „Jede Verhandlung findet auf der Basis militärischer Fakten statt… Wir haben schnell gehandelt und der Ukraine eine Menge an Waffen und Munition geliefert, damit sie auf dem Schlachtfeld kämpfen und am Verhandlungstisch eine möglichst starke Position einnehmen kann.“ Scholz hat definitiv nicht schnell gehandelt - und es fällt auch nicht schwer, sich vorzustellen, dass er Verhandlungen protegiert, sobald Putin den Donbass eingenommen hat und dem Westen signalisiert: Nun ist’s genug fürs Erste. 



Angesichts dessen ist die mit schneidender Arroganz gepaarte Dünnhäutigkeit des Kanzlers nicht nur befremdlich, sondern fast schon wieder beruhigend: Olaf, der Stolze scheint empfindlich für Kritik, weil er weiß, dass sie zutrifft. Er muss spüren, dass die gute Meinung von sich selbst die gute Meinung aller anderen verlässlich übertrifft – und dass es auf Dauer wenig erfolgversprechend ist, allein den eigenen Idealansprüchen zu genügen.

So gesehen, wäre die, nun ja: wilhelminische Art, mit der Scholz Widerspruch als Majestätsbeleidigung abkanzelt und ein Herrschaftswissen markiert, das außerhalb der Reichweite legitimer Kritik liegt, nur ein aggressiver Ausdruck seiner Fähigkeit zur Selbstkorrektur? 

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Wollen wir’s hoffen. Scholz hat sich bereits böse angewöhnt, in seinen Reden das eigene Handeln zu rezensieren und dabei selbstverständlich alles „richtig“ zu finden. Auch die Hoffart, mit der er sich über die „mathematischen Modelle“ der Ökonomen erhebt; die Herablassung, mit der er „Jungs und Mädels“ in den Reihen des Bundestags unterstellt, sie würden sich, unbeschwert von der atlasartigen Last der Verantwortung, die er selbst zu schultern habe, mit Blick auf den Krieg in der Ukraine von ihren Emotionen hinreißen lassen; der Dünkel, mit dem er sich „naseweise“ Kommentare und „Krams“ in Talk-Shows verbittet („Wo leben wir eigentlich?“); erst recht die moralische Scharfrichtergeste, mit der er politisierte Jugendliche in die Nähe nazistischer Rollkommandos rückt - das alles stünde selbst einem Regierungschef schlecht zu Gesicht, der die „Zeitenwende“ schon politisch nachvollzogen hätte.

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