Tauchsieder
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Unsere Freiheit ist bedroht – doch der Kanzler schweigt

Die westlichen Demokratien geraten zunehmend unter Druck, von innen und von außen. Orientierung gibt uns kein Kanzler. Wir müssen die liberale Demokratie selber leben. Eine Kolumne.

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Olaf Scholz hat sich kurz nach der amtlichen Bekanntmachung des sogenannten „Haushaltskompromisses“ wegen eines Corona-Infektes ins Kanzleramt zurückgezogen, um die Regierungsgeschäfte eine Woche lang im Homeoffice, nunja: zu führen. Keine Termine. Keine Auftritte. Keine Reden. Nie dürfte Scholz sich und seinem Regierungsstil näher gekommen sein als in der letzten Adventswoche des Jahres 2023. Wortlos weit weg von den Einsprüchen und Händeln beckmesserischer Parlamentszwerge. Glücklich enthoben der partikularinteressierten Proteste vor dem Brandenburger Tor.

Diesmal toben und streiken also die Bauern? Ich aber, Olaf der Stolze, habe das Große und Ganze zu bedenken!

Natürlich wünschen wir dem Kanzler einen milden Krankheitsverlauf und schon gar keine Spätfolgen. Aber der erzwungene Rückzug in die Trutzburg der Republik am Ende dieses ereignisreichen Jahres ist doch so symptomatisch für die Kommunikationsdefizite des Kanzlers, dass seine Abwesenheit den meisten Deutschen vermutlich nicht einmal mehr aufgefallen ist: „Erst sah man den Kanzler nicht sehr / dann vermisst man ihn nicht einmal mehr.“

Tatsächlich ist die Frage „Wo ist Olaf Scholz?“ neben seiner Vergesslichkeit und schlumpfigen Besserwisserei längst eine Art drittes Kernmerkmal seiner zweijährigen Amtszeit geworden. Der Kanzler ist kein Kapitän, kein Lotse und kein Wegweiser, weder Pfadfinder noch Antreiber oder Führungsfigur, sei es kraft Autorität oder eines Vertrauens, das er sich inzwischen erworben hätte. Angela Merkel („Sie kennen mich“) hat vielleicht nicht viele Probleme gelöst, den Deutschen aber stets zu verstehen gegeben, dass sie sie bearbeitet.

Bei Olaf Scholz kann man sich dessen nicht sicher sein. Er ist verlässlich abwesend, wenn sich den Bürgerinnen und Bürgern mal wieder der Kopf dreht. Er will souveräne Gemütsruhe ausstrahlen – und sendet Signale der Unzuständigkeit. Er will abgeklärt wirken – und wirkt gleichmütig. Er versichert den Deutschen „You never walk alone“ – und lässt sie mit kommunikativer Maximalpassivität im Regen ihrer Verunsicherungen stehen.

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Natürlich, schon drei Monate nach dem Amtsantritt war klar: „Scholz ist exakt der Typus Politiker, der seiner stillen Kärrnerarbeit wegen geschätzt werden will und dessen Schelmenstolz sich aus der unendlich sprudelnden Quelle heimlicher Überlegenheitsgefühle speist. Er dirigiert gern im Hintergrund, regiert Sachlagen als lauernder Besserwisser von ganz weit hinten – und überlässt anderen so lange die Diskussionsbühne, bis er sich zuletzt meint herablassen zu sollen kraft seiner überlegenen Autorität. Erst dann, mit verhandelten Beschlüssen und durchgesetzten Ergebnissen, tritt Scholz ins Scheinwerferlicht, um Richtlinienkompetenz zu signalisieren, sich als eine Art ‚Entscheider letzter Instanz‘ in Szene zu setzen.“ So stand es hier bereits Anfang Februar 2022. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Allerdings hat sich die Welt inzwischen weiter gedreht. Russland hat die Ukraine überfallen. Islamisten wünschen Juden fast schon gewohnheitsmäßig den Tod. China gibt den USA zu verstehen, dass man sich Taiwan einverleiben werde. Die Energie- und Lebensmittelpreise sind zwischenzeitlich explodiert. Der Klimaschutz ist nicht mehr Norm und Priorität, sondern nur noch wünschbare Nebensache. Das Schlagwort der Deindustrialisierung Deutschlands macht munter die Runde. Die demokratischen Grünen sind inzwischen der politische Punchingball Nummer eins, nicht mehr die antidemokratischen Abbruchunternehmer der AfD, deren 20 Prozent Plus in Umfragen offenbar kaum noch jemanden bekümmert.

In einer solchen Situation wünschte man sich allerdings einen Kanzler (und Bundespräsidenten), der die Deutschen in ein Grundsatzgespräch über sich selbst und ihr Land verwickelt: Was steht auf dem Spiel? Worauf müssen wir uns besinnen? Welche Prioritäten setzen wir? Einen Kanzler, der nicht „ganz zuversichtlich“ ist, „dass die AfD bei der nächsten Bundestagswahl nicht besser abschneiden wird als bei der letzten“, sondern der sich auf den Marktplatz stellt und den Menschen auseinandersetzt, dass die liberalen Demokratien der Welt gerade von außen und innen angegriffen werden. Dass Russland und Iran die neuen Feinde Europas sind. Dass das China des Großen Vorsitzenden Xi Jinping geradezu beseelt davon ist, die globale Ordnung seit 1945, die Gleichrangigkeit von Völkerrecht und Menschenrechten, zu zerstören. Und dass uns das alles nicht egal sein kann. Dass uns das Opfer abverlangen wird. Dass wir zusammen rücken müssen – und uns nicht aus den Augen verlieren dürfen: um den Erhalt unserer Freiheit und Demokratie willen.

Die gute Nachricht: Es geht auch ohne Kanzler und Präsident, ohne Weihnachtsbotschaft und Silvesteransprache. Wir führen es in den nächsten Tagen am Beispiel unserer selbst vor, wenn wir unsere „Wahlverwandtschaften“ pausieren lassen und uns ein paar Tage lang für die oft ganz andere Lebenswirklichkeit unserer Eltern, Kinder, Geschwister und der unserer „entfernten Verwandten“ interessieren: Stadt trifft auf Land, Kreuzberg meets Heidelberg – und Liberale sitzen mit Leitkulturellen zu Tisch. Und siehe da: Es mag manchmal nicht einfach sein. Aber es geht. Man reißt sich zusammen. Man hört zu. Man versteht. Und entwickelt vielleicht sogar Verständnis füreinander:

Für die Radfahrerin in Köln-Ehrenfeld und den Pendler aus der Eifel. Für die Mieterin in München und den Bauherren in Cottbus. Für die Verzweiflung des jungen Klimaklebers und die Agrardieselwut der Rund-um-die-Uhr-Bäuerin – und für die Engelsruhe des Polizisten, der mal Klimakleber vom Asphalt löst, mal Trecker-Demos absichert. Für die gutverdienende Managerin auch, die 50.000 Euro Einkommensteuer vom Staat bitteschön gut angelegt wissen will. Für den Handwerker, der auf alles Grüne schimpft, aber seinen Azubis mit Migrationshintergrund einmal die Woche Nachhilfe erteilt.

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Für die Bundespolitikerin der Linken, die ihr Studium hingeschmissen hat, aber jedes Wochenende durch ihren Wahlkreis tourt. Für den Angestellten in der Arbeitsagentur, der nicht viel mehr als seine „besten Kunden“ verdient und sich dennoch nicht über seine GEZ-Gebühren beschwert.

Das ist die frohe Botschaft einer liberalen Gesellschaft: Niemand steht in der Macht eines anderen. Keiner muss sich fürchten. Jeder hat ein Recht auf sein Anderssein und auf das Anerkenntnis seines Andersseins, darf seine Meinungen und Überzeugungen zu Markte tragen, gleich welchen Geschlechts, welcher Religion, welcher Hautfarbe. Also geht raus und trefft euch, redet miteinander, lernt euch kennen, lernt voneinander – und sehet: Ihr werdet euch achten, vielleicht sogar schätzen!

Eine liberale Gesellschaft ist keine permissive Gesellschaft lauter Liberallalas, die maximal schwachtolerant über alles hinwegsehen, solange es sie nicht selbst betrifft: Laissez-faire; jeder macht, was er will. Eine liberale Gesellschaft ist nicht leitkulturell definierbar, schon gar nicht mit dem angemaßten Wissen von Politikern, sich sich ansonsten jede Übergriffigkeit des Staates verbitten. Eine liberale Gesellschaft zeichnet sich stattdessen dadurch aus, dass sie sich in der institutionalisierten Abwesenheit von Zwang und Gewalt immer wieder neu, in einem möglichst „herrschaftsfreien Diskurs“ (Jürgen Habermas) auf Bedingungen eines „guten Zusammenlebens“ (Michael Sandel) einigt.

Die Freiheit der liberalen Gesellschaft hat daher immer eine qualitative Dimension: Sie ist uns Menschen nicht gegeben, sondern aufgegeben. Sie ist nicht einfach vorhanden, gleichsam frei verfügbar, sondern eine „Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben“ (Charles Taylor) – mit Blick auf uns und alle anderen. Sie hat eine elementare Dimension in der Abwesenheit von Furcht, Willkür und Hass (Judith Shklar), weshalb sie entschlossen verteidigt gehört gegen ihre Feinde. Und sie gewinnt in Demokratien (nur und) allein Qualität mit Blick auf die Ziele, denen freie Menschen im freien Gespräch eine höhere Bedeutung beimessen als anderen.

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