Tauchsieder
Quelle: imago images

Wirtschaftspolitik à la Karlsruhe?

Der Haushaltskompromiss der Ampel ist nicht das Ergebnis einer politischen Priorisierung staatlicher Ziele – sondern der Ausdruck ihrer kameralistischen Egalisierung. Ein deprimierender Triumph der Friedrich-Merz-Union.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

„Priorisierung“ ist die neue Lieblingsvokabel im politischen Berlin. Olaf Scholz, Christian Lindner, Friedrich Merz – allen kommt das Wort in diesen Tagen flüssig und unfallfrei über die Lippen, wenn auch unterschiedlich betont und semantisch akzentuiert.

Der SPD-Kanzler sagt, die drei Ampel-Parteien hätten sich im Haushaltspoker „darauf verständigt, Ausgaben zu priorisieren, ohne die soziale Sicherheit oder die Transformation aufs Spiel zu setzen“ – das klingt nach einem politischen Stoßseufzer, das hört sich nach Bedauern und Bußübung an, nach Erledigung einer leidigen Pflichtaufgabe: Das Bundesverfassungsgericht will es so, mir sind die Hände gebunden, nichts zu machen, es tut mir leid, liebe Deutsche, weiß Gott – ich schüttete viel lieber ein Füllhorn über Euch aus!

Friedrich Merz (CDU) und Christian Lindner (FDP) wiederum hüpft das Herz, wenn sie mit forderndem Blick eine „Priorisierung“ staatlicher Ausgaben verlangen. Ihr wirtschaftspolitisches Denken kreist traditionell um enge Gürtel, schlanke Verwaltungen, entfesselte Bürokratien, sie freuen sich über eine Wirtschaftspolitik nach Karlsruher Art: Nur ein asketischer Staat ist ein athletischer Staat, weshalb ein Staatshaushalt zur Steigerung der gutbürgerlichen Landesfitness gut getrimmt gehört, zurechtgeschnitten, in Form gebracht – priorisiert halt!

Ist das noch politisches Labeling – oder schon Etikettenschwindel? Regierung und Opposition behaupten zu priorisieren – und bringen staatliche Aufgaben und Ziele gerade nicht in eine qualitative Rangfolge. Sie unterwerfen ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik einem juristischen Primat und ersparen sich eine politische Sortierung und Gewichtung der anstehenden Probleme und Krisenlagen.

Der in 200 Stunden zwischen Kanzler, Vize und Schatzmeister ausgehandelte „Haushaltskompromiss“ der Ampelregierung ist nicht das Ergebnis einer politischen „Priorisierung“ von Themen, sondern der exakte Ausdruck ihrer kameralistischen Egalisierung. Der Etat 2024 verteilt ein paar Kostenmilliarden vom Staat auf die Bürger um, die ihn finanzieren und umgekehrt, um weder dem Staat noch dem Bürger wirklich etwas abzuverlangen. Und tatsächlich geht die alte Rechnung immer noch nicht auf: Investitionen plus Sozialausgaben plus Schuldenbremse gleich Haushalt unter Krisenvorbehalt.

Nur eins hat sich geändert: Der Klimaschutz genießt keine Priorität mehr – weil er nicht mehr „Freiheit, Gerechtigkeit und nachhaltigen Wohlstand“ sichert wie noch im Koalitionsvertrag der rot-grün-gelben Fortschrittsfreunde vor zwei Jahren. Stattdessen stuft die Ampel den Klimaschutz ab zu einer bloßen Einnahmequelle, zu einer fiskalpolitischen Opportunität: Die Erhöhung des CO2-Preises wird nun nicht mehr abgebremst (gut so), aber die Einnahmen werden nicht etwa ausgeschüttet (wie versprochen), sondern konfisziert und sachfremd verwaltet, in staatliche Subventionen gegossen und ministeriell umverteilt (schämt Euch!).

Dass die Deutschen im nächsten Jahr unterm Strich ein paar Euro mehr für Benzin, Strom und Wärme zahlen müssen – je nun. Wer darin ein weiteres Konjunkturprogramm für die AfD erblickt, übersieht die dreistelligen Wummsmilliarden, die kräftigen Gehaltserhöhungen speziell für Gering- und Normalverdiener, die großzügige Ausweitung der Sozialzone (etwa Wohngeld), aber auch die Zahlen der Reisebranche und die vielen gut besuchten Restaurants: Es ist ein Zerrbild, dass dieses Land nur noch von seiner Substanz zehrt und seine Menschen permanent verarmen.

Vielleicht sollten vor allem die Leichtliberalen in den Parlamenten und die passionierten Standortschlechtredner in den Management-Etagen mal bemerken, dass ihre immer gleichen Dekadenzdiagnosen (Bürokratie! Lohnkosten! Sozialabgaben! Strompreise! Staatsvorgaben!) und Untergangsszenarien (Deindustrialisierung! Mindestlohn-Ruin! Innovationsfeindlichkeit! Substanzverzehr! Leistungsunlust!) sich nach 30 Jahren vor allem gegen sie selbst richten, weil sie wieder und wieder nicht eintreffen wollen.

Fakt ist: Die Zahl der Erwerbstätigen und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten steigt und steigt nach dem Coronaknick, die Inflation lässt deutlich nach und die Märkte blicken „bullish“ auf die Dax-Elite, die Reallöhne legen wieder vorsichtig zu, die Gaszufuhr ist gesichert, der Aufbau der Erneuerbaren Energien nimmt langsam Fahrt auf, die Autoindustrie hat endlich verstanden – und fast zwei Drittel der Deutschen sagen auf dem Höhepunkt der „Polykrise“, ihnen persönlich sei es im Jahr 2023 besser ergangen als zuvor.

Vielleicht hat die Konjunktur der rechtspopulistischen Abbruchunternehmer ja auch damit zu tun, dass in Deutschland bis hoch hinauf in die Chefetagen vor allem gejammert wird? Und damit, dass „die Politik“ permanent neue Ansprüche für jede erdenkliche Gruppe erfindet, um sich ihr als perfekter Wirtschafts- und Sozialingenieur empfehlen zu können?

Ist es denkbar, dass sich die Eliten inzwischen exakt deshalb die vergleichsneidischen Blicke aller Deutschen einhandeln – also der Arbeitslosen auf Ausländer und Flüchtlinge („die kriegen mehr“), der Geringverdiener auf die Arbeitslosen („die kriegen mehr“), der Normalverdiener auf die Geringverdiener („die kriegen Ersatzleistungen und zahlen keine Lohnsteuern“), der Gutverdiener auf die Normalverdiener („die zahlen weniger Steuern und Sozialabgaben“), aber auch der Familien auf die Singles („Rentenschnorrer“), der Mittelständler auf die Anker-Konzerne („Subventionen“), der Handwerker auf die energieintensive Industrie („Strompreisbremse“)? 

Vielleicht ist das ja der Kern des Problems: Wirtschaftsvertreter und Politiker, die daran gewöhnt sind, ein Land der zu kurz kommenden lobbyistisch zu bewirtschaften, können auch (und erst recht) nicht im historischen Krisenfall Prioritäten setzen.

Dabei liegen diese Prioritäten auf der Hand: eine kraftvolle Unterstützung der Ukraine (statt einer symbolischen EU-Beitrittsperspektive) und das Aufspannen eines atomaren Schutzschirms für Europa, die Zurüstung der Bundeswehr und europäisch abgestimmte Investitionen in den zügigen Aufbau von Waffen- und Munitionsfabriken; ein Sondervermögen für die Beschleunigung der klimaneutralen Transformation der Wirtschaft auf marktwirtschaftlicher Grundlage, um privates Kapital zu entfesseln (CO2-Preis und Klimageld statt Subventionen à la carte) und womöglich noch ein weiteres zur Behebung des Investitionsstaus (vor allem Schulen und Bahnstrecken).

Denn welche Partei in welcher Koalition auch immer in den nächsten Jahren die Kanzlerin oder den Finanzminister stellen wird: Sie hat kein Staatsschuldenproblem zu adressieren, sondern das Problem einer legalistischen Finanzpolitik in einer multipolaren Welt der Kriege und der forcierten Systemkonkurrenz, der postfossilen Revolutionen und Verteilungskämpfe um Ressourcen, Rohstoffe, Technologien.

Lebte Niklas Luhmann noch, würde er womöglich sagen, dass Deutschland an einem multiplen „Kategorienfehler“ krankt oder mit einer Kollision verschiedener Funktionssysteme kämpft: Die Politik meint die Wirtschaft mit der Logik des Rechtssystems codieren zu sollen – und unterwirft sich selbst den unsinnigsten Vorgaben der Judikative, statt nach legislativen Alternativen zu suchen. 

Denn nimmt man die Verfassungsrichter beim Wort, muss der Bundestag jetzt jedes Jahr aufs Neue die Fortdauer „außergewöhnlicher Notsituationen“ feststellen, weil Krisen und ihre finanziellen Folgen sich nun einmal nicht jährlich an Silvester in Luft auflösen – mit der Folge, dass das Parlament sich künftig über einen bunten Strauss neuer, alter und noch älterer Notlagen streitet: Die „Ahrtalflut“ und die „Ukraine-Hilfe“ werden 2024 nur der Anfang sein. Denn so viel ist sicher: Die nächste Krise kommt bestimmt.

Deutsch sein heißt erstens, frei nach Richard Wagner, die Schuldenbremse „um ihrer selbst willen“ durchzutreten? Und deutsch sein heißt zweitens, frei nach Karl Friedrich Schinkel, jedes Jahr ins „Reich der Ideen“ aufzubrechen, um alte und neue Notlagen zu erfinden? Das kann keine Partei ernstlich unter seriöser Haushaltspolitik verstehen.

Altersvorsorge Drohender Renten-Schock: Die hochriskanten Investments der Versorgungswerke

Berufsständische Versorgungswerke erwirtschaften Renten für Ärzte, Anwälte und Mediziner. Doch sie haben Geld überaus riskant angelegt – mit potenziell dramatischen Folgen.

Frauenförderung à la Siemens Siemens-Managerin klagt an: Nutzt der Konzern Compliance als Mitarbeiter-Entsorgungstool?

Der Fall einer Siemens-Managerin, die schwanger wurde und nun um ihren Job kämpfen muss, erschüttert den Dax-Konzern. Nun droht der mit ihr verheiratete Personalchef in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

Selbstversuch Der Weg zum eigenen Wald – für kleines Geld

Unser Autor träumt von einem Wald. Er bekommt ihn für wenig Geld bei einer Zwangsversteigerung.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Ganz gleich, ob man sich für oder gegen Sondervermögen ausspricht, finanzielle Nachhaltigkeit enger oder weiter auslegt: Die Haushaltspolitiker aller Mitteparteien müssen einer Ergänzung und Reform der Schuldenregel jetzt schleunigst Priorität einräumen, wollen sie sich ihr „Funktionssystem“ auch in Zukunft funktionstüchtig erhalten.

Lesen Sie auch: Die Ampel klempnert sich durch eine der größten Krisen des Landes

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%