EU-Sondergipfel Mehr Wettbewerb, weniger Klimaschutz

Ursula von der Leyen (2.v.r-l), Präsidentin der Europäischen Kommission, spricht mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Mario Draghi, Ministerpräsident von Italien, und Mette Frederiksen (r), Ministerpräsidentin von Dänemark, vor einem Treffen am Runden Tisch am zweiten Tag eines EU-Gipfels. Quelle: dpa

Der wachsenden Kritik am Green Deal und der schwachen Bilanz der EU in Sachen Wachstum und Wirtschaft soll mit einem „Deal für Wettbewerbsfähigkeit“ begegnet werden. Dazu gehören auch neue Defizitregeln, die allerdings zu Lasten der Nachhaltigkeitsziele gehen.

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Auf dem Gipfel des Europäischen Rats Mitte kommender Woche soll über die strategische Agenda der nächsten fünf Jahre diskutiert werden. Das ist wenige Wochen vor der Europawahl am 9. Juni zwar noch kein Treffen, bei dem bindende Beschlüsse gefasst werden. Allerdings herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Wettbewerbsfähigkeit der EU wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt werden muss.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte sich – nicht nur von deutschen Christdemokraten, sondern auch von Liberalen und Vertretern der EVP – zuletzt deutliche Kritik anhören müssen, weil in ihrer Amtszeit der Green Deal über die Bedürfnisse der Wirtschaft gestellt worden sei. Auch der Binnenmarkt sei, so die Klage von Wirtschaftsverbänden, stark vernachlässigt worden. Von der Leyen, der gute Chancen eingeräumt werden, ihr Ziel einer zweiten Amtszeit zu erreichen, hatte mit der Zusage reagiert, sich stärker um die Anliegen der Unternehmen und um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu kümmern.

Die von der Wirtschaft und zahlreichen Verbänden finanzierte Initiative „Europe Unlocked“ kämpft in Brüssel für mehr Deregulierung und hat dafür der Politik und der Kommission das Motto „think-small-first“ empfohlen. Auch der einflussreiche Wirtschaftsverband Business Europe plädiert für eine „regulatorische Atempause“ und fordert bei jedem neuen Gesetzesvorschlag eine Prüfung, ob dadurch der Wettbewerb gefördert oder beeinträchtigt würde. Ähnliche Forderungen sind zuletzt vom Europäischen Runden Tisch der Industrie an von der Leyen herangetragen worden.

Flexiblere Kapitalmärkte

Es ist also Druck auf dem Kessel, wenn sich die Staats- und Regierungschefs am 17. und 18. April zu ihrem Sondergipfel treffen. Deshalb will der Rat reagieren und nach dem Vorbild des Green Deal nun einen „Deal für Wettbewerbsfähigkeit“ beschließen. Nach einem in Brüssel kursierenden Entwurf räumt der Rat ein, die aktuellen geopolitischen Spannungen und insbesondere die Subventionspolitik anderer Staaten hätten „die Schwachstellen der Union offengelegt, während langfristige Produktivitäts-, Technologie- und demografische Trends dringende politische Anpassungen erfordern“ würden.

Ausdrücklich ist in dem Entwurf von einem Rückstand der EU bei Wachstum, Produktivität und Innovation die Rede, den es aufzuholen gelte. So sollen mit einem weiteren Schritt unter anderem die europäischen Kapitalmärkte besser miteinander verknüpft werden, damit das für die Finanzierung großer Projekte unverzichtbare private Kapital in ganz Europa optimal mobilisiert werden kann. Das Ziel einer echten europäischen Kapitalmarktunion, so der Plan, soll von der nächsten Kommission verwirklicht werden. Auch wird auf die Klagen vieler Unternehmen aus der Umwelt- und Ökoenergiebranche reagiert. Die nächste Kommission will eine eigene Plattform einrichten, bei der Hindernisse im EU-Binnenmarkt gemeldet werden können.

Nicht zuletzt sollen auch die Fiskalregeln „aktualisiert“ werden, wie es in Brüssel heißt. Dadurch soll etwa verschuldeten Ländern einerseits etwas mehr Flexibilität eingeräumt werden, um insbesondere Investitionen in Klimaschutz und Innovation finanzieren zu können. Andererseits werden aber auch verbindliche Pläne verlangt, wie übermäßige Defizite abgebaut und die geltenden Defizitgrenzen von maximal drei Prozent des BIP bei der Neuverschuldung und 60 Prozent bei der Gesamtverschuldung eingehalten werden können. Ökonomisches Wachstum und finanzpolitische Stabilität könne, so das Argument, nicht mit übermäßiger Verschuldung einhergehen.

Kritik am Kurswechsel

Die Hinwendung der Kommission zur Wirtschaft stößt jedoch auch auf Kritik. Es dürfe weder Abstriche an den beschlossenen Klimazielen der EU geben noch seien Sozialabbau oder Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte hinnehmbar, lauten die Kernpunkte bei Grünen und Sozialdemokraten. Der Vorsitzende der Grünen im EU-Parlament, Philippe Lamberts, warnt angesichts der geplanten Fiskalregeln sogar vor einer neuen, „entfesselten Austerität“. Diese werde die Regierungen daran hindern, ihre Klimaziele zu erreichen. Aus diesem Grunde würden die Grünen „alles tun, was erforderlich ist, um diese Pläne zu verhindern“.  

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von Cordula Tutt

Auch der Europäische Gewerkschaftsbund „European Trade Union“ sieht die geplanten Fiskalregeln kritisch. Würden diese umgesetzt, dann könnten es mit Schweden, Dänemark und Irland nur drei Mitgliedsländer der EU schaffen, ihre bis 2027 geplanten Investitionen in den Bereichen Nachhaltigkeit und Soziales zu finanzieren. Alle anderen würden bei Umsetzung ihrer Pläne gegen die Verschuldensgrenzen verstoßen. Deshalb bleibe ihnen keine andere Wahl als Abstriche im Sozial- und Umweltbereich vorzunehmen. Die Fiskalregeln würden wie eine „Zwangsjacke“ wirken und die Regierungen an der Umsetzung der beschlossenen Politikziele hindern, sagte ETUC-Generalsekretärin Esther Lynch.

Klimaziele werden eingeklagt

Die Kritik erhält im Lichte der jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMTR) jedoch eine neue Brisanz: In ihrem Urteil hatten die Richter erstmals anerkannt, dass der Klimawandel die Menschenrechte bedroht – und mangelnder Klimaschutz sie gefährdet. Das Gericht gab daher einer Klage Schweizer Bürgerinnen gegen die Politik ihres Landes statt, lehnte aber weitere Klagen aus Portugal und Frankreich ab. 

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Die Schweiz wird damit zur Korrektur ihrer Klimapolitik gezwungen – ähnliches könnte auch anderen Ländern passieren. Das hatte entschieden, dass die Europäische Menschenrechtskonvention faktisch „ein Recht auf effektiven Schutz durch staatliche Autoritäten vor den ernsthaften schädlichen Aspekten des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlergehen und Lebensqualität“ enthält. Darum seien alle Staaten der Konvention dazu verpflichtet, Regeln und Maßnahmen dagegen zu entwerfen und anzuwenden. Die Schweiz habe dabei Lücken gezeigt und müsse nachbessern. Experten erwarten, dass nun auch Klagen gegen diejenigen EU-Regierungen erhoben werden, die Abstriche an ihren Klimazielen vornehmen oder nicht schlüssig darlegen können, wie sie diese erreichen können.

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