Als Jamie Dimon vor kurzem einen Brief an seine Aktionäre schrieb, dachte man an einer Stelle zunächst an einen Druckfehler: Die Leitzinsen könnten „auf acht Prozent oder mehr“ steigen, schrieb der Chef von JP Morgan Chase. „Die enormen Steuerausgaben, die Billionen, die jedes Jahr für die grüne Wirtschaft benötigt werden, die Remilitarisierung der Welt und die Umstrukturierung des Welthandels – all das wirkt inflationär.“
Alles richtig und nachvollziehbar – aber acht Prozent?
Nun blickt Dimon schon seit einiger Zeit düsterer in die Zukunft. Man könnte auch sagen: ohne Überschwang. Seine Warnung trifft allerdings einen Nerv, die Stimmung an den Märkten hat sich gedreht. Wir durchleben einen heilsamen Realitätscheck: Zu früh hatten viele die Inflation abgehakt. Die warnende Formel „higher for longer“ wurde in etwa so verinnerlicht wie von einem Kind, dem man hinterherruft, es solle die Jacke zumachen, weil es draußen noch kalt ist.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Anfang April begann die Zeit des Erwachens
Und so gingen die Märkte seit Jahresanfang atemlos nach oben, mit kurzen Unterbrechungen, die Investoren zum Nachkaufen nutzten – derweil wurde aus den Zinsschritten der US-Notenbank Fed ein Ratespiel: drei, zwei oder eins?
Anfang April begann die Zeit des Erwachens: Es gab starke Jobdaten aus den USA – ein Plus von 300.000 Jobs, 50 Prozent mehr als erwartet –; es folgten ernüchternde Inflationszahlen, 3,5 Prozent im März, 0,3 Prozentpunkte mehr als im Februar. Und dann vermeldete der IWF im „World Economic Outlook“, dass die USA dieses Jahr um 2,7 Prozent wachsen, stärker als jedes andere G7-Land.
Wer so boomt (und Geld mit vollen Händen ausgibt), kann keine Inflation bändigen. Diese Woche hat Fed-Chef Jerome Powell es noch mal deutlich gesagt: Es gebe „mangelnde Fortschritte“ im Kampf gegen die Inflation. Deshalb könnten die Leitzinsen für längere Zeit auf dem jetzigen Niveau von 5,25 bis 5,5 Prozent bleiben. „Die jüngsten Daten haben uns eindeutig nicht größere Zuversicht gegeben“, sagte Powell. Alles werde länger dauern als angenommen.
Preisdruck bleibt auch in Europa
Gut möglich, dass die EZB in Europa vor der Fed die Zinswende einleitet, weil die ökonomische Lage eine andere ist – die Inflation ist inzwischen niedriger, sie war zuvor höher, angetrieben durch den Energieschock. Und Europas größte Volkswirtschaft wächst viel zu anämisch.
Aber auch hier gibt es Risiken, wie Bundesbankchef Joachim Nagel der „WirtschaftsWoche“ im Interview gesagt hat. „Aktuell gehen die Teuerungsraten zurück.“ Aber: „Der Ölpreis liegt angesichts der Spannungen im Nahen Osten ein gutes Stück höher als im Vorjahr. Gas wiederum hat sich in Europa kräftig verbilligt. Die Energiepreise werden ein Unsicherheitsfaktor bleiben.“ Auch in der Lohnentwicklung gebe es „Unwägbarkeiten“. Wenn die Löhne kräftiger stiegen als erwartet, könnte der Preisdruck länger anhalten.
Europa sollte aus dem amerikanischen Erwachen eine Lehre ziehen: Inflation ist hartnäckig. Und nicht etwas, das man zwischen KI-Euphorie und Cryptomania abhaken kann.
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