WirtschaftsWoche: Herr Robertsen, die Wirtschaft in Deutschland und der Eurozone schrumpft. Müssen wir uns auf eine lange Rezession einstellen?
Eric Robertsen: Die schwache Konjunktur auf dem Kontinent drückt die Inflationsraten nach unten. Das gibt der Europäischen Zentralbank (EZB) Spielraum, die Leitzinsen im nächsten Jahr zu senken. Niedrigere Zinsen werden die Konjunktur mit einiger Verzögerung wieder anschieben.
Der jüngste Rückgang der Inflation beruht vor allem auf den niedrigeren Rohstoffpreisen und statistischen Basiseffekten. Wie groß ist die Gefahr, dass die EZB die Zügel zu früh lockert?
Die hohen Preissteigerungen der vergangenen Jahre waren teilweise die Folge von Lieferengpässen bei Material, Energie und Vorprodukten. Dazu kam, dass die Bürger und Unternehmen die Einkommenshilfen, die die Regierungen in der Corona-Pandemie zahlten, für Güterkäufe nutzten. Der dadurch entstandene Nachfrageüberhang trieb die Preise in die Höhe. Mittlerweile zeigen die Leitzinsanhebungen, mit denen die Zentralbanken auf das Inflationsproblem reagiert haben, Wirkung. Die Teuerungsraten bilden sich zurück und die Arbeitsmärkte kühlen sich ab. In den nächsten zwölf Monaten dürften die Inflationsraten weiter zurückgehen.
Die Inflation ist also endgültig besiegt?
So einfach ist das nicht. Es besteht das Risiko, dass die Inflation 2025 wieder auflebt. Das hat vor allem mit der Finanzpolitik zu tun, die in vielen Ländern wieder auf einen expansiveren Kurs einschwenken dürfte, vor allem in den USA und in einigen Schwellenländern.
Zur Person
Eric Robertsen ist Chefstratege und Leiter des globalen Research der britischen Bank Standard Chartered. Zuvor hat er für Millennium Capital Partner und die Deutsche Bank gearbeitet.
In Deutschland fährt der Zug in die andere Richtung. Die Bundesregierung muss sparen, um die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse einzuhalten.
Deutschland nimmt eine Sonderstellung ein. Der Druck auf die Regierungen, mehr Geld für Infrastruktur, die Verteidigung und den Klimaschutz auszugeben, wächst. Die zusätzliche Nachfrage des Staates wirkt inflationär. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Teuerungsraten nach einer vorübergehenden Beruhigung im nächsten Jahr ab 2025 wieder anziehen. Die Inflation ist noch nicht besiegt.
Die Regierungen könnten sich bei den Ausgaben zurückhalten, dann bliebe die Inflation niedrig.
Das blendet die politische Dimension der aktuellen gesellschaftlichen Probleme aus. In den vergangenen zehn Jahren haben wir in einer Nullzinswelt mit einer ultra-expansiven Geldpolitik gelebt. Davon haben diejenigen profitiert, die Zugang zu Kapital hatten. Für den Rest der Bevölkerung war das geldpolitische Experiment ein Desaster. Aktien und Anleihen haben sich verteuert, die Immobilienpreise sind durch die Decke gegangen, und am Ende setzten auch noch die Verbraucherpreise zum Höhenflug an. Die Kluft zwischen den Vermögensbesitzern und denjenigen, die über kein Vermögen verfügen, ist größer geworden. Populistische Regierungen dürften daher versuchen, das Problem mit staatlichen Geldern zu entschärfen. Dazu gehört auch, dass sie die Finanzpolitik verstärkt in den Dienst der Konjunkturstimulierung stellen.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Wenn die Finanzpolitik auf Expansion schaltet, wächst der Druck auf die Zentralbanken, die Kreditkosten für die Regierungen niedrig zu halten.
Für die Zentralbanken dürfte es ungemütlich werden. Senken sie wegen der wachsenden Staatsschulden die Zinsen zu früh oder zu stark oder beides, treiben sie die Inflation nach oben. Dann ziehen auch die Zinsen am langen Ende des Kapitalmarktes und damit die Finanzierungskosten des Staates an. Solche Koordinationsprobleme zwischen Geld- und Finanzpolitik kannte man bisher nur aus Schwellenländern. Jetzt sind die Industrieländer davon betroffen. Ich gehe davon aus, dass die Notenbanken die Zinsen im nächsten Zinssenkungszyklus nicht wieder auf null Prozent herunterschleusen. Die Fed wird mit dem Leitzins vermutlich nicht unter drei Prozent gehen.
Was können die Regierungen tun, damit das Schuldenproblem nicht eskaliert?
Die Finanzminister werden zunächst wohl versuchen, durch geschickte Emissionen von Staatsanleihen unterschiedlicher Laufzeiten günstig an Kapital zu kommen. Aber das Problem lässt sich so nicht wirklich lösen. Dazu müssten die Politiker auf der Ausgabenseite der Budgets Prioritäten setzen, was noch finanziert werden soll und was nicht.
Im nächsten Jahr stehen in den USA Präsidentschaftswahlen an. Welchen Einfluss hat die Konjunktur auf den Wahlausgang?
Derzeit sieht es danach aus, dass es wieder ein Rennen zwischen Joe Biden und Donald Trump geben wird. Die aktuellen Zustimmungswerte für Biden sind trotz der robusten US-Wirtschaft erstaunlich schlecht. Sollte sich im nächsten Jahr die wirtschaftliche Lage eintrüben, wird es ihm schwerfallen, Rückenwind zu bekommen. Andererseits machen sich viele Wähler Sorgen, welche Folgen eine erneute Trump-Präsidentschaft für Amerika hätte. Ich rechne daher mit einer sehr knappen Entscheidung. Mir scheint, dass insbesondere die Finanzmärkte die Wahrscheinlichkeit eines Sieges von Trump unterschätzen.
Womit müssten wir bei einer erneuten Trump-Präsidentschaft rechnen?
Trump würde vermutlich die Steuern für die Unternehmen senken und versuchen, das Geschäftsklima in den USA zu verbessern. Außenpolitisch würde er die Unterstützung für die Ukraine beenden und im Ausland investiertes US-Kapital zurück nach Amerika locken.
Womit müssten wir rechnen, wenn Biden gewinnt?
Biden würde die Finanzpolitik aggressiv lockern und wie schon in den vergangenen Jahren stärker auf das Instrument der Industriepolitik zurückgreifen. Insgesamt wäre Bidens Wirtschaftspolitik inflationärer als die von Trump.
Welche Rolle wird China in Zukunft für die Weltwirtschaft spielen?
Chinas Wirtschaft dürfte im nächsten Jahr um weniger als fünf Prozent wachsen. Das liegt nicht zuletzt an den Überkapazitäten im Immobiliensektor. Die Regierung hat versucht, den Immobilienmarkt durch die Lockerung der Bedingungen für Hypothekenkredite sowie staatliche Kreditlenkung zu stimulieren. Doch das eigentliche Problem in China ist, dass sich die Bürger beim Konsum zurückhalten.
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Was sind die Gründe dafür?
Aus Sicht der Bürger hat sich ein perfekter Sturm zusammengebraut. Es gibt derzeit kaum attraktive Möglichkeiten, Vermögen aufzubauen. Aktien haben sich in den vergangenen drei bis vier Jahren grottenschlecht entwickelt. Die Zinsen für normale Spareinlagen betragen weniger als drei Prozent und der Immobilienmarkt liegt am Boden. Dazu kommt, dass der Arbeitsmarkt schwächelt und die Einkommensperspektiven daher trüb sind. All das drückt auf den privaten Konsum. Wegen der schwachen Binnennachfrage wird China versuchen, seine Produkte verstärkt im Ausland abzusetzen. Dazu muss es seine Produkte so preisgünstig wie möglich anbieten. China wird daher im nächsten Jahr wieder Disinflation exportieren.
Europa gerät noch stärker unter Druck preisgünstiger Anbieter aus China?
China hat sich längst vom Abnehmer zum Konkurrenten für europäische Unternehmen entwickelt. Das hat aber nichts daran geändert, dass die chinesische und europäische Wirtschaft eng miteinander verflochten sind.
Die Vorstellung, man könne sich vom Handelspartner einfach abkoppeln, ohne wirtschaftlich Schaden zu nehmen, ist naiv.
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