Werner knallhart
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Tabu Krankfeiern: Einmal geniest, zwei Wochen frei

In Zeiten des Fachkräftemangels und der Extrembelastung im Job kursiert ein neues Massengerücht hinter vorgehaltener Hand: Gefühlt machen immer mehr Angestellte wochenlang krank, obwohl sie fit sind. Passen die Regeln zur Krankschreibung noch in die neue Zeit? Eine Kolumne.

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Es geht hier nicht um die, die wirklich krank sind. Denen wünsche ich gute Besserung. Es muss sich keiner zu Unrecht kritisiert fühlen. Aber vielleicht fühlt sich ja jemand ertappt, der eigentlich gar nicht krank ist. Laut einer repräsentativen Studie der Pronova BKK aus dem Januar 2024 melden sich sechs von zehn Arbeitnehmenden trotz Arbeitsfähigkeit krank. Zehn Prozent geben zu, dies sogar häufig zu tun.

Ich bekomme mittlerweile quer durch die Branchen erzählt, was die Studie bestätigt: Es ist nicht mehr der eine da in der Abteilung, von dem alle wissen, dass er den Frühling auf der Terrasse mit seinen Kindern genießt, weil er seinen Arzt bekniet hat, dass der ihn anderthalb Monate krankschreibt. Es ist ein Phänomen geworden. Immer häufiger höre ich: „Die Leute machen das bei uns jetzt ganz offensichtlich regelmäßig so“:

Der Pfleger, der sich mit der Stationschefin über den Dienstplan streitet, wutschnaubend in den Feierabend abdampft, sich am nächsten Morgen krankmeldet und danach 14 Tage fehlt.

Die Kampagnenentwicklerin einer PR-Agentur, die ihren Arbeitsvertrag fristgerecht gekündigt hat, dann mit einem leichten Schnupfen zum Arzt geht und danach bündig bis zum Vertragsende krankgeschrieben ist. Für zwei Wochen. Bei einer gerade aufkommenden Erkältung.

Der Redakteur, der von einem Kollegen angeschnauzt wird, darauf erwidert: „Das habe ich nicht nötig“ und danach den Rest der Woche zu Hause bleibt. Mit dem gelben Schein.

Der Azubi, den es regelmäßig freitags oder montags so arg erwischt, dass er dadurch ein verlängertes Wochenende hat.

Die Assistentin, die nach mehrwöchiger schwerer Krankheit am ersten Tag der Rückkehr beim Flurkaffee herumerzählt, dass sie in den vergangenen Wochen in etlichen Möbelgeschäften unterwegs war, um ihrem neuen Freund dabei zu helfen, seine Wohnung endlich mal ordentlich einzurichten.

Wie gesagt: Gute Besserung allen wirklich Kranken. Es ist gut, dass es für diese Leute eine unbürokratische Lohnfortzahlung gibt. Doch die Blaumacher kratzen am System. Man bekommt als wirklich Kranker mittlerweile ja regelrecht das Bedürfnis, seine Krankheit mit Arztbriefen zu beweisen, um sich von denen abzuheben, denen alle unterstellen krankzufeiern.

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von Sebastian Schug

Aber der Arztbrief geht den Arbeitgeber nichts an. Offiziell krank ist offiziell krank. Weitere Nachfragen verbieten sich in aller Regel. Das ist einerseits gut, weil unsere Krankheiten uns in der Öffentlichkeit stigmatisieren könnten. Andererseits macht uns die große Geheimniskrämerei Übertreibungen leicht.

Ein Freund, der in der Pflege arbeitet, erzählte mir: „Das kommt bei uns in der Klinik regelmäßig vor. Alle wissen, dass die oder der nicht krank ist. Die fühlen sich ausgenutzt. Der Job hat denen früher mehr Spaß gemacht. Der Abstieg nervt die. Und Fehlen geht ja auch leicht. Du erzählst deinem Arzt: Ich kann seit Wochen nicht mehr richtig durchschlafen. Meinen Reizhusten kann ich so nie richtig auskurieren. Der Job macht mich fertig. Die Belastung laugt mich aus. Und dann sagt der Arzt: Wissen Sie was, ich ziehe Sie mal direkt für zwei Wochen aus dem Verkehr.“

Vor ein paar Tagen habe ich einen Freund ins Krankenhaus begleitet, der sich einen Fingerknochen gebrochen hatte. So bekam ich sein Gespräch mit dem Arzt mit:

„Wie lange soll ich Sie krankschreiben?“
„Wann kann ich die Hand denn wieder belasten?“
„Direkt nach der OP.“
„Okay, ähm, keine Ahnung, eine Woche?“
„Ach, was sagen Sie zu zwei Wochen?“
„Ja, wenn Sie das sagen...“

Mein Freund ist dann nach einer Woche wieder zur Arbeit gegangen. Weil er einfach nicht arbeitsunfähig war. Und ein fairer Angestellter mit schlechtem Gewissen bei Schmu. Von der Ärzteschaft allerdings können wir viel Solidarität mit den Arbeitgebern nicht erwarten. Die Patienten sind ja die, die ihre Existenzgrundlage sichern. Sollen die Mediziner deren Schilderungen des eigenen Leids dauernd wirtschaftsfreundlich anzweifeln?



Der Witz ist: Das System begünstigt jene Angestellten ohne schlechtes Gewissen. Und das Gewissen ist schnell nicht mehr schlecht, wenn man sich ausgebeutet fühlt. Hier spielt wohl der Fachkräftemangel gleich eine dreifache unheilvolle Rolle.

1. Er führt zu einer höheren Belastung, was die Belegschaft tatsächlich schneller krank macht.

2. Er führt zu Frust, im schlimmsten Fall zu einer inneren Kündigung und dem Gefühl, der Arbeitgeber sei der Gegner, den es zu bekämpfen gilt.

3. Er führt zu dem guten Gefühl der Sicherheit: Die schmeißen mich eh niemals raus. Weil die zurzeit niemand anders finden.

Hier braucht es viel Idealismus, um der Firma die Stange zu halten. Zu viel womöglich für einige. Die eine verwehrte Gehaltserhöhung. Die eine Anweisung, den Urlaub zu verschieben. Und dann: „Ihr könnt mich alle mal.“
Wie soll ein Arbeitgeber je beweisen, dass hier jemand auf Kosten des Teams Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erheischt?

Der Personalleiter eines Arbeitgebers mit hunderten Mitarbeitenden sagte mir jüngst hinter vorgehaltener Hand: „Krankfeiern nimmt zu. Aber wie sollen wir das beweisen?“

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Die Daumenschrauben ließen sich bei Anzeichen von Sozialmissbrauch zwar anziehen:

1. Attest bereits am ersten Tag der angeblichen Erkrankung.

2. Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen. Der kann die Arbeitsunfähigkeit überprüfen.

3. Detektiveinsatz.

Aber für all das braucht man einen begründeten Zweifel. Ein Bauchgefühl reicht nicht. Wie soll man Zweifel gut begründen können, wenn einem nichts weiter vorliegt als die Info: Ich bin krank?

Der Arbeitgeber kann etwa die Krankschreibung als Gefälligkeitsbescheinigung zurückweisen, wenn der Arbeitnehmer Sätze spricht wie „wenn ich den Urlaub nicht bekomme, dann bin ich eben krank“, oder wenn der Arbeitnehmer bei Tätigkeiten beobachtet wird, die nicht zu einem Kranken passen, etwa eine Sauftour bei Grippe. Problem: Der Arbeitnehmer muss dem Chef nicht sagen, wegen welcher Krankheit er krankgeschrieben ist. Und konterkariert ein Trinkgelage mit einer Sehnenentzündung im Unterarm den Heilungsprozess?

Lässt sich Blaumachen nachweisen, ist unter Umständen sogar eine fristlose Kündigung möglich. Aber das gelingt in der Praxis ja wohl in den seltensten Fällen. Zumindest kann der Medizinische Dienst der Krankenkassen ein eigenes Gutachten ablehnen, wenn der Arzt, der das Attest ausgestellt hat, eine schlüssige Diagnose notiert hat. Naja, und welcher Mediziner gibt sich da wohl die Blöße, wenn sich die Krankenkasse meldet? Zumal die Gutachten des Dienstes oft mehrere Tage oder Wochen dauern. Wie soll man dann noch nachweisen, wie krank der Arbeitnehmer zu Beginn der Krankschreibung wirklich war?

Und einen Detektiv darf man eh erst einsetzen, wenn konkrete Tatsachen vorliegen, die den Verdacht rechtfertigen. Welcher Arbeitgeber fühlt sich da sicher genug? Zumal ungerechtfertigte Nachforschungen für den Arbeitgeber teuer werden können. Wegen Datenschutz.

Unterm Strich: Blaumachen ist denkbar einfach. So wie Streiken. Die Frage ist: Passen die sympathisch arbeitnehmerfreundlichen Regeln noch in die heutige Zeit, in der wegen Fachkräftemangel die Arbeitnehmer unter bestimmten Gesichtspunkten schon am längeren Hebel sitzen?

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Ich stelle nur die Frage. Es ist Zeit, dass Blaumachen als gesellschaftliches Phänomen aus der Tabuecke geholt wird. Das Blaumachen der einen belastet die redlichen Motivierten umso mehr. Und die sollen nicht wirklich krank werden.

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