ÖPNV-Streiks in NRW „Wir wollen den Fahrgästen damit nicht ins Kreuz treten“

Unter anderem wegen zu hoher Arbeitsbelastung streiken Bus- und Bahnfahrer nun wieder. Quelle: imago images

Dem ÖPNV gehört die Zukunft, heißt es. Bloß: Wer die Busse und Bahnen fahren soll, bleibt unklar. Viele Fahrer sind erschöpft – und begehren auf. Gespräche mit denen, die täglich Tausende ans Ziel bringen.

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Weil er mit Fäusten geschlagen wurde, musste sich Michael Ritter schon einmal verteidigen – während der Arbeit. Rene Schmitz wiederum ist vor ungefähr zwei Jahren sogar mit einem Messer bedroht worden. Ebenfalls bei der Arbeit. Beide sind Straßenbahnfahrer. Ritter in Essen, Schmitz in Düsseldorf. Keine Einzelschicksale: Ihre Kollegen wurden bespuckt, mit Gegenständen beworfen oder angepinkelt.

Brenzlig kann es dann werden, wenn die Fahrer betrunkene Fahrgäste an der Endhaltestelle auffordern auszusteigen oder einschreiten, wenn sich Passagiere untereinander beleidigen oder gewalttätig werden. Oder wenn die Bahn zu spät kommt.

„Auf der Schiene“ ist Michael Ritter seit mittlerweile 15 Jahren. Eigentlich hat er sich mal zum Kaufmann ausbilden lassen und arbeitete danach lange in der Möbelbranche. „Irgendwann wollte ich aber etwas anderes machen“, sagt er. Eines Tages habe er an seinem Lieblingshalteplatz in Essen an der Helenenstraße gesessen, eine Straßenbahn vorbeifahren sehen und gedacht: „Egal, ob die Bahn voll oder leer ist – die verdienen ihr Geld“, sagt Ritter. Also bewarb er sich und bekam den Job.

Nach all den Jahren mache Ritter den Job auch heute noch gerne. Genauso wie der 34-jährige Rene Schmitz, der vorher 13 Jahre lang im Rettungsdienst arbeitete und nun seit immerhin fast fünf Jahren für die Rheinbahn in Düsseldorf Bus und Bahn fährt. Dass viele Verkehrsbetriebe trotzdem händeringend – und vor allem oft vergeblich – nach Fachkräften suchen, kann Ritter verstehen: „Auch die Ruhrbahn sucht, ich kenne das gar nicht anders, seitdem ich da bin“, sagt er. Der Druck und Stress seien enorm: „Wir haben eine Sechs-Tage-Woche und nur alle fünf oder sechs Wochen unser reguläres Wochenende frei“, sagt Ritter.

ÖPNV-Streiks in NRW: Erneute Streiks für mehr Entlastung

Um schon kurzfristig etwas im ÖPNV zu ändern, stehen die Zeichen bei den Verkehrsbetrieben nun wieder auf Streik, zumindest in NRW. Seit Monaten gehen die Fahrer auf die Straße, um gegen die hohe Arbeitsbelastung, marode Fahrzeuge und schlechte Bezahlung zu kämpfen. Bei der neuesten Urabstimmung der Gewerkschaft Verdi über unbefristete Arbeitskämpfe stimmten 97 Prozent der Mitglieder dafür – auch Rene Schmitz und Michael Ritter. „Das ist eine irre Zahl und zeigt, wo die Reise hingeht“, sagt Ritter.

Die neue Streikwelle startete in Nordrhein-Westfalen Anfang der Woche. Vielerorts legten Beschäftigte die Arbeit nieder. Um den Druck auf die Unternehmen zu erhöhen, plant die Gewerkschaft in den kommenden Tagen und Wochen, zeitversetzt weitere Teilbereiche des Nahverkehrs zum Streik aufzurufen. „Die Beschäftigten sind vielerorts an ihr Limit gekommen, ohne Entlastung bricht das System aus Überstunden und hohen Krankenständen irgendwann zusammen“, sagte Verdi-Verhandlungsführer Heinz Rech.



Über den Montag hinweg verhandeln Verdi und der Kommunale Arbeitgeberverband in Dortmund über die Forderungen der Gewerkschaft. In der Nacht zu Dienstag wurden die Tarifverhandlungen erneut ergebnislos beendet, allerdings stimmte Verdi dem Schlichtungsvorschlag der Arbeitgeber zu.

In der aktuellen Tarifrunde soll es aber nicht hauptsächlich um mehr Geld, sondern bessere Arbeitsbedingungen und weniger Belastung gehen. „Man muss uns Fahrern endlich mehr Entlastung und Freizeit zugestehen“, sagt Michael Ritter.

Während Rene Schmitz mit den Arbeitszeiten im ÖPNV zurechtkommt, gehe es für ihn beim Streik vor allem darum, wo er Feierabend machen kann: „Es ist problematisch, dass wir Fahrer heute an einem Betriebshof anfangen, aber dann woanders Feierabend haben“, sagt der 34-Jährige. „Die Fahrt zurück zum Startbetriebshof bekommen wir nicht bezahlt und es nervt viele, nach der Schicht oft noch durch die halbe Stadt zu fahren – quasi in ihrer Freizeit“.

Für die kommenden Streiks hat die Gewerkschaft laut Michael Ritter mehr Strategien auf die Beine gestellt, als den Arbeitgebern lieb ist. „Trotzdem wollen wir den Fahrgästen damit nicht ins Kreuz treten, sondern sie auf unsere Seite ziehen. Wir kämpfen ja nicht nur für uns, sondern auch für einen funktionierenden ÖPNV“, sagt Ritter. Doch für den müsse auch der Staat das Geld fließen lassen, laut Ritter können die Kommunen den Kraftakt Mobilitätswende nicht allein tragen.

Derzeitiger Fachkräftemangel im ÖPNV sei erst der Anfang

Viele Fahrgäste sind frustriert. Nicht nur, weil die Fahrer streiken, auch weil Busse und Bahnen unpünktlich sind, ausfallen oder Fahrpläne ausgedünnt werden. Frustriert sind aber auch viele Menschen in der Fahrerkabine. Unter anderem, weil es selbst zu wenige von ihnen gibt, um diesen ins Stocken geratenen Status Quo im ÖPNV aufrechtzuerhalten. Und erst recht sind sie zu wenige dafür, um die klimafreundliche Mobilitätswende zu schaffen.

Die Fachkräftelücke im ÖPNV ist im vergangenen Jahr unter allen Branchen am stärksten gestiegen, nämlich um ungefähr 90 Prozent. Davon berichtet zumindest das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung in einer Studie. Laut der Autoren fehlten fast 3600 Bus- und Straßenbahnfahrer, Tendenz steigend. Immerhin soll es bis 2030 laut des VDV, dem Verband der Verkehrsunternehmen, ein Drittel mehr an Bussen auf der Straße und Bahnen auf der Schiene geben, um die Klimaschutzziele im Verkehrssektor zu erreichen.



Insbesondere der Verkehrssektor muss beim Klimaschutz nachsteuern. Er verfehlte laut Umweltbundesamt seine Klimaziele erneut deutlich und lag 2023 13 Millionen Tonnen an CO₂-Äquivalenten über der zulässigen Grenze.

Mit ihren Jobs gehören Ritter und Schmitz zu einer immer rasanter aussterbenden Art. Der ÖPNV steht vor einem riesigen Generationenproblem: Bis 2030, wenn eigentlich ein Drittel mehr an Bussen und Bahnen unterwegs sein soll, werden laut VDV rund 80.000 Beschäftigte in den Ruhestand gehen. Das ist rund die Hälfte der Beschäftigten aller VDV-Mitgliedsunternehmen. Über die Hälfte aller Busfahrer ist heute älter als 50 Jahre. Allein, um das altersbedingte Ausscheiden der Babyboomer zu kompensieren, müsste die Branche jährlich bis zu 6000 Menschen dazugewinnen.



Für einen Ausbau des ÖPNV im Sinne der Verkehrswende müsste die Branche laut VDV bis 2030 mindestens 110.000 neue Beschäftigte einstellen. Für Harald Kraus, Vorsitzender des Personalausschusses beim VDV und Arbeitsdirektor bei den Dortmunder Stadtwerken, ist das sogar die konservative Rechnung – andere gehen von 180.000 Menschen aus.

Der derzeitige Fachkräfteengpass ist laut Kraus erst der Anfang: „Wenn ich mit anderen Personalern zusammen sitze, sage ich: Wenn ihr jetzt schon sagt, die Situation ist belastend, ist es leider so: Es wird ab jetzt nur noch schlimmer.“ Seine Sorge: „In Bereichen, wo die Arbeitslosigkeit schon deutlich runtergegangen ist, wird es noch schwieriger werden, Leute zu finden – je mehr der Arbeitsmarkt anzieht, desto heftiger wird es für uns“.

Entlastung durch selbstfahrende Busse

Und die jungen Leute? Viele Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt oder wacklig, das weiß auch Bahnfahrer Ritter: „Zu fahren hört sich erstmal romantisch an, aber ich habe schon viele Auszubildende gesehen, die nach ein paar Wochen feststellen, dass sie keine Freizeit mehr haben“, sagt er. Einige hätten ihre Ausbildung dann auch wieder abgebrochen. Bus- und Bahnfahrer haben laut ihm ja nicht mal immer Zeit, um in Ruhe auf die Toilette zu gehen oder an der Endhaltestelle ins Brötchen zu beißen.



„Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder Akademiker werden“, sagt Harald Kraus. Der Dienstleistungssektor stehe bei vielen jungen Leuten ohnehin nicht mehr so hoch im Kurs. Man stelle in der gesamten Branche fest, dass sich die Erwartungshaltung an Arbeit geändert hat. Heute wollen Menschen mehr Freiheiten und mehr Einfluss darauf, wo und wann sie arbeiten. Etwas, was der ÖPNV nur bedingt bieten kann: „Homeoffice geht im Fahrdienst oder der Werkstatt nicht, flexible Arbeitszeiten beißen sich mit fixen Fahrplänen“, sagt Kraus. „Man muss eben zu einer bestimmten Uhrzeit losfahren, eine bestimmte Strecke fahren und zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Haltestelle sein“.

Langfristig könne das autonome Fahren für eine gewisse Entspannung bei der Personalsituation sorgen. Und muss es vielleicht auch: „Wenn es diese 30 Prozent mehr im ÖPNV sein sollen, geht es nicht anders, wir haben derzeit schon Probleme, den Status Quo zu halten“, sagt er. Für ihn ist das eine Perspektive, wenn auch eine langfristige. „Früher ging das Schreckensgespenst rum vom autonomen Fahren, durch das die Arbeitsplätze wegfallen“, sagt er. „Das erübrigt sich jetzt, wir haben die Leute ja gar nicht erst“.

Nahverkehr braucht viel mehr Geld

Punkten könnte der ÖPNV mit besserer Bezahlung, zumindest in der Theorie. Für Rene Schmitz gibt es bei der Rheinbahn zwar unter anderem Zuschläge für Schichten an Wochenenden, Feiertagen oder Nächten sowie Weihnachts- und Urlaubsgeld und weitere Benefits. Sein Grundgehalt aber liege bei rund 3100 Euro brutto im Monat – und liegt damit unter dem deutschen Durchschnitt.

„Wir leben in einem strukturell unterfinanzierten ÖPNV-System“, sagt Kraus. Jahrzehntelang sollte der ÖPNV effizienter gestaltet werden, geachtet worden sei vor allem auf Einsparungen, auch beim Personal. „Nach dem Motto: Wenn drei Stellen frei werden, besetzen wir nur zwei nach, um Geld zu sparen“, sagt Kraus. Wegen dieser Sparvorhaben habe man lange Zeit nicht für genug Nachwuchs sorgen können. Das rächt sich jetzt: „Der ÖPNV muss wegen der Verkehrswende radikal ausgebaut werden, das ist eine ganz andere Herausforderung, auf die er jahrzehntelang nicht ausgerichtet war“, sagt Kraus.

Man benötige nun erheblich mehr Investitionsmittel, um den Ausbau und Betrieb zu finanzieren, sonst könne der ÖPNV nicht wachsen, wie er müsste, um die Klimaziele im Verkehrssektor zu erreichen. „Die Personal- und Energiekosten fressen uns auf“, sagt Kraus. Ein Bus koste ungefähr eine halbe Million Euro. Damit der das ganze Jahr täglich fährt, brauche man vier oder fünf Leute. „Das sind Personalkosten von 300.000 bis 400.000 Euro im Jahr – und ein Bus fährt bis zu zwölf Jahre“, sagt Kraus.

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Bei der Fachkräftelücke helfen sollen Menschen aus dem Ausland, zumindest mittelfristig. Derzeit prüften die Verkehrsbetriebe in einem gemeinsamen Projekt, inwiefern sich Akquise und Ausbildung von Fachkräften realisieren lassen. Im Optimalfall solle so um die Hälfte des Bedarfes an Fachkräften abgedeckt werden. „Wenn wir in Deutschland nicht verstehen, dass wir Leute aus dem Ausland brauchen, wird unser Lebensstandard extrem leiden und die Verkehrswende scheitern“, sagt der Vorsitzende des VDV-Personalausschusses.

Lesen Sie auch: Fachkräftemangel: Wie Bürokratie die Einwanderung nach Deutschland bremst

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