Energieknappheit Wer ist wirklich Schuld an der Gaskrise? Ein Daten- und Faktencheck

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Trägt die EU eine Mitschuld?

Tragen die Europäer eine Mitschuld an den niedrigen Lieferungen, weil sie auf kurzfristigen Verträgen beharren?

Vielleicht. Während Gazprom Interesse an langfristigen Verträgen hat, hat die EU lange gesagt: Der Wettbewerb auf dem Gasmarkt muss erhalten bleiben, die Lieferverträge müssen kürzer werden. Nur so kann der Markt walten. Insofern ist es nur konsequent, wenn manche Gazprom-Vertreter jetzt sagen: Das habt Ihr nun davon. 

Stimmt es, dass die Deutschen Gas nach Polen und in die Ukraine pumpen und so selbst zur Knappheit beitragen, die wiederum den Preis erhöht?

Richtig ist, dass seit einiger Zeit dem Überwachungssystem zufolge der Gasfluss von Deutschland nach Polen am Messpunkt Mallnow massiv ansteigt. Zwar hat es auch in den vergangenen Jahren immer mal wieder solche umgekehrten Flüsse Richtung Polen gegeben. Doch noch nie in einem solchen Ausmaß.

Da Russland über die Ukraine und Weißrussland den Daten zufolge aktuell kaum Gas durch Polen schickt, muss sich das Land anderswo behelfen. Und das geschieht offenbar über Deutschland. 

Mallnow

Die Ukraine hat ein ähnliches Problem. Russland beliefert das Land schon seit 2016 nicht mehr direkt. Seitdem wird es über sogenannte virtuelle Rückflüsse versorgt, vor allem von Ungarn, der Slowakei und Polen. Die Ukraine kauft das Gas aus den entsprechenden EU-Staaten und zweigt es sich direkt aus den Pipelines ab, die durch die Ukraine laufen. Russland beurteilt diese Rückflüsse schon länger als unzulässig.

Am 1. Oktober teilte die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass mit, dass die Ukraine die Möglichkeit solcher virtuellen Rückflüsse im Fall von Ungarn verloren habe, weil Russland Ungarn jetzt über die Türkei und die Balkan-Stream-Pipeline versorge.

An Messpunkt Sudzha an der russisch-ukrainischen Grenze sank die Gasmenge zudem seit Dezember um rund 80 Prozent, sodass kaum noch russisches Gas durch das Land fließt.

Sudzha

Falsch ist hingegen die Schlussfolgerung, Deutschland könne das Gas einfach behalten, um so den Preis hierzulande zu senken. Der Gashandel funktioniert in Europa marktwirtschaftlich, Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, vor allem für kurzfristig gehandeltes Gas, etwa am niederländischen TTF, dem wichtigsten Handelspunkt. 

Wenn es in der Ukraine oder Polen eine Knappheit gibt, zahlen Versorger dort gute Preise und Händler verkaufen selbstverständlich Gas weiter. Deutschland wird derzeit über die Pipeline Nord Stream 1 recht stabil beliefert. Würde die Bundesrepublik das Gas einfach einbehalten, käme das einer Beschlagnahmung gleich.

Nord Stream 1

Werden die Erdgaslieferungen aus Russland nicht jedes Jahr gedrosselt, wenn der Winter einbricht?

Nein. Zwar kam es den Gasflussdaten zufolge in der Vergangenheit hin und wieder mal an wichtigen Pipelines zu Reduktionen der Mengen, diese waren aber nicht von Dauer wie im aktuellen Winter. 

Das teure Gas, heißt es, ist auch eine Folge der deutschen Energiepolitik.

Deutschland braucht mehr Gas, weil 2022 die Atomkraftwerke und dann auch bald die Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Nicht das niedrige Angebot sei also das Problem, sondern die höhere Nachfrage. Mittelfristig stimmt das. Die neue Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgelegt, dass in den nächsten Jahren weitere Gaskraftwerke gebaut werden müssen. Die sollen die Brückentechnologie ins Zeitalter der Erneuerbaren liefern. Aber im vergangenen Jahr - 2021 - hatte Gas nur einen Anteil von 10,4 Prozent an der Nettostromerzeugung, Braun- und Steinkohle dagegen einen Anteil von rund 30 Prozent.

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Aber warum hat die EU insgesamt zu wenig Gas bestellt?

Die Europäische Union bestellt genau genommen gar nichts. Die EU sorgt nur dafür, dass der Markt funktioniert. Angesichts der hohen Gaspreise gab es zuletzt auf Betreiben einiger Länder, darunter Spanien, den Plan, gemeinsame Gasreserven anzulegen, um im Fall einer plötzlichen Knappheit ausgleichen zu können – und auch zu verhindern, dass die Preise zu sehr in die Höhe schießen. Der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, haben auch klar bejaht, dass es diese Möglichkeit gibt. Nur wird die konkrete Umsetzung den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten oder möglichen Beschaffungsallianzen überlassen. In Deutschland haben die SPD und auch Wirtschaftsminister Robert Habeck angeregt, in den deutschen Erdgasspeichern nationale Reserven anzulegen. Denn die Füllstände in den Speichern sind auf historischen Tiefständen.

Lesen Sie auch: „Füllstände der Gasspeicher historisch tief“: Schützt eine Gasreserve vor Russlands Willkür?

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