Nahostkonflikt „Ein militärischer Sieg gegen die Hamas wäre ein Scheinsieg“

Die Angriffe Irans auf Israel konnten zwar fast alle abgefangen werden, doch die Situation eskaliert weiter. Quelle: imago images

Erstmal haben sich die Erzfeinde direkt angegriffen. Wie geht es weiter im Nahen Osten? Kann der Flächenbrand verhindert werden? Nahostexperte Volker Perthes erklärt die Interessen vor Ort – und die Chancen auf Frieden.

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WirtschaftsWoche: Herr Perthes, der Iran hat vor etwa zehn Tagen erstmals Israel direkt mit Raketen und Drohnen beschossen, nachdem Israel eine Attacke auf die iranische Botschaft in Damaskus ausgeführt hatte. Wenige Tage später schlug Israel mit einem Angriff nahe Isfahan seinerseits zurück – drei Präzedenzfälle innerhalb kürzester Zeit. Erleben wir historische Tage im Nahen Osten?
Volker Perthes: Es gibt einen alten Spruch: Im Nahen Osten gibt es zu wenig Land, aber zu viel Geschichte. Aber ich will der Frage nicht ausweichen: Seit dem 7. Oktober werden andauernd Schwellen überschritten. Solch ein Massaker an Jüdinnen und Juden hat es in der Geschichte des Staates Israel noch nicht gegeben. Israel hat zuvor auch keinen so langen und brutalen Krieg wie den heutigen in Gaza geführt. Dann kamen die jeweiligen Angriffe Israels und des Iran auf das Botschaftsgelände beziehungsweise das Staatsgebiet des jeweils anderen. Insofern markieren die Ereignisse der jüngsten Zeit in mehrfacher Hinsicht eine gefährliche Eskalation.

Wie groß ist aus Ihrer Sicht das viel beschworene Risiko eines Flächenbrandes?
Ich hoffe, dass die kühleren Köpfe auf beiden Seiten die Oberhand behalten oder gewinnen. Iran wie Israel haben mit ihren direkten Angriffen ungeschriebene Spielregeln, die Jahrzehnte gegolten haben, verändert. Wir erleben einen Zustand, den man als Kommunikation durch bewaffnete Aktionen bezeichnen muss. Aber so paradox das klingen mag: Die dabei gesendeten Botschaften lassen darauf schließen, dass nun wieder die Balance der gegenseitigen Abschreckung gelten soll. Keiner hat Interesse an einem großen Krieg.

Aber wie geht es nun weiter?
Die Lage im Nahen und Mittleren Osten war schon schwer, und sie wird jetzt noch heikler. Der Krieg gegen die Hamas ist schließlich nicht beendet, eine Offensive auf Rafah wahrscheinlich. Und der Iran weitet wiederum das Gebiet seines Einflusses immer weiter aus: Israel sieht sich mittlerweile einem Ring iranischen Einflusses gegenüber, der vom Norden mit der libanesischen Hisbollah über Syrien und Irak bis zu den Huthis im Jemen und in den Sudan reicht. 

Volker Perthes Quelle: dpa Picture-Alliance

Zur Person

Sie sehen also kaum Chancen auf einen Waffenstillstand in Gaza?
Irgendwann werden die Waffen schweigen; ich fürchte jedoch, dass das noch dauern wird. Die Regierung von Benjamin Netanjahu erscheint entschlossen, gegen Rafah vorzugehen. Und das wird die Lage nicht nur humanitär, sondern auch politisch noch einmal verschärfen.

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Ägypten hält seine Grenze zum Gazastreifen geschlossen, die Palästinenser sind gefangen. Warum?
Die Ägypter riegeln die Grenze zum Gazastreifen ja nicht aus ökonomischen Gründen ab. Die Versorgung palästinensischer Flüchtlinge durch internationale Hilfsorganisationen wäre in Ägypten ja sogar leichter als im Kriegsgebiet. Nein, die ägyptische Regierung fürchtet, dass nach 1948/49, der Staatsgründung Israel, und 1967, dem Sechstagekrieg, eine dritte Welle palästinensischer Vertreibung beginnen könnte. Die ungelösten Folgen der ersten beiden palästinensischen Fluchtwellen sind bis heute Quell der Spannungen in der Region. Hinzu kommt: Sowohl Ägypten als auch Jordanien als direkte Nachbarn haben Frieden mit Israel geschlossen, den sie massiv gefährdet sähen, wenn eine weitere große Zahl an Palästinensern zu ihnen flüchten würde. Die Solidarität und das Mitgefühl mit den Palästinensern in der Bevölkerung sind schließlich überall groß. Das gilt im Übrigens auch für Saudi-Arabien, das seinerseits eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel anstrebt.

Gibt es für dauerhaften Frieden eine Alternative zur Zweistaatenlösung, obwohl die weiter weg erscheint denn je?
Der Einschätzung würde ich widersprechen. Die Zweistaatenlösung erlebt sogar eine gewisse Renaissance, denn sie ist die einzige – so unwahrscheinlich sie heute auch erscheinen mag.

Das müssen Sie erklären.
Schauen wir auf die Alternativen zur Zweistaatlichkeit, die es für Israel geben könnte: Eine dauerhafte Vertreibung der Palästinenser; eine Art Apartheids-Regime mit einer Annexion des Gazastreifens und der Westbank durch Israel, aber ohne Bürgerrechte für die dort lebenden Palästinenser; ein gemeinsamer Staat für Juden und Araber, der Israel und die palästinensischen Gebiete umfasst. Keines der drei Szenarios ist realistisch, zwei davon würden Israel dauerhaft isolieren.

Netanjahu lässt jedoch keine Zweifel an seiner Entschlossenheit, eine Zweistaatenlösung zu verhindern.
Da würde ich die Meinung der israelischen Mehrheit teilen: Das Land braucht einen neuen Premierminister. Er führt eine Koalition, die seine Macht sichert, ihn aber gleichzeitig hindert, notwendige und richtige Schritte zu tun.

Er lässt auch keinerlei Zweifel am Kriegsziel, die Hamas zerstören zu wollen.
Es wird bloß nicht zu erreichen sein. Mal abgesehen von dem großen Leid, dass eine Rafah-Offensive bringen würde: Die Hamas ist gesellschaftlich so tief verwurzelt, dass ein militärischer Sieg ein Scheinsieg wäre. Waffen und Ressourcen lassen sich zerstören, aber nicht die soziale Basis der Hamas. Wer die Hamas besiegen will, muss mit der palästinensischen Regierung in Ramallah zusammenarbeiten, und zwar glaubhaft, ehrlich und nachhaltig.

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Kommen wir noch einmal zum Iran zurück. Auch die Mullahs haben keinerlei Interesse an einer Friedenlösung.
Richtig. Israelfeindschaft ist Teil der Ideologie des Regimes. Eine Region, in der eine Mehrheit der arabischen Staaten mit Israel Frieden schließt und kooperiert, widerspricht der geopolitischen Vision Teherans. Das primäre Interesse der Elite ist aber der Erhalt dieses Regimes. Deshalb will man selbst keinen Krieg führen, der letztlich das eigene Regime bedrohen könnte. Und hofft darauf, dass ein unauflösbarer Konflikt mit den Palästinensern Israel irgendwann selbst an den Rand seiner Existenz bringt.

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