Tauchsieder
Schwerin: Mit Plakaten und Sprechchören demonstrieren rund 1600 Menschen auf dem Marktplatz in Schwerin gegen die AfD und Rechtsextremismus. Quelle: dpa Picture-Alliance

Deutschland steht auf… – was?

Der Demos hat demonstriert: Wir Demokraten sind mehr. Die AfD reagiert nervös – und gewinnt neue Mitglieder. Trotzdem taugt der „Aufstieg des Rechtspopulismus“ nicht mehr zur politischen Alarmphrase. Nutzen wir die Chance? Eine Kolumne.

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Ach, wäre die Geschichte bloß tot. Dann könnte man sie vielleicht nicht ehren, wohl aber auf sich beruhen lassen. Dann könnte man ihren Leichnam pathologisch untersuchen und ihrer bewegten Biografie still gedenken – dann müsste man sie nicht permanent künstlich beatmen und aus dem Wachkoma holen, wieder und wieder, um sie nach Analogien und Vergleichen zu befragen, bewegt von guten oder schlechten Motiven. 

Kein Ereignis kann heute mehr bloßes Ereignis, zunächst einmal ein Phänomen der Gegenwart sein. Es muss sogleich historisch sortiert und geschichtlich eingeordnet werden, damit es sich gedanklich schnell abheften und gegenwartspolitisch verwerten lässt. Man befragt die Geschichte auch nicht wirklich, denn man kennt ihre Antworten immer schon. Sie liegt schließlich hilflos da und kann sich nicht wehren. Also entnimmt ihr jeder, was er gerade braucht. Kurzum: Die Geschichte dient Gegenwartsdeutern eines politischen Ereignisses wie ein klinisch toter Organspender dem Nieren- oder Herzpatienten – stets zu Diensten, ganz nach Belieben.

Natürlich sind auch die vielen Demonstrationen des deutschen Demos für die Demokratie sogleich historisch verglichen worden: Dreimal „Demos“ – von hier aus ist es schließlich nur ein intellektueller Katzensprung zur „Wir sind das Volk“ (1989). Andere fühlten sich eher an den Protest von 300.000 Westdeutschen im Bonner Hofgarten gegen die nukleare Aufrüstung (1981) erinnert oder an die Lichterketten etwa von 400.000 Menschen in München gegen Ausländerhass nach den Mordanschlägen auf Asylbewerberheime (1992). 

Blickt man auch nur flüchtig genauer hin, sind die historischen Bezüge allerdings nicht nur wenig belastbar, sondern auch höchst irreführend. Bei den Montagsdemonstrationen 1989 standen viele Menschen in der DDR bangmutig gegen ein Regime der Unfreiheit auf; sie mussten mit staatlicher Gewalt, mit Strafe und Verfolgung rechnen – und die „soziale Energie“ der Bewegung war geprägt von einem verbreiteten politischen Willen, der zunächst auf die Reform, später die Überwindung der sozialistischen Planwirtschaft und Einparteienherrschaft abzielte. Jeder Vergleich mit 1989 relativiert und entwertet die Wende-Revolution.

Beim Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss wiederum meldete sich keine Mehrheit der Deutschen zu Wort, schon gar nicht eine, die das Modell der westlichen Demokratie meinte, gegen ihre Feinde verteidigen zu müssen. Auch standen die Friedenstauben auf der Straße den vielen Falken in Parlamenten und Wohnstuben damals so unversöhnlich gegenüber, dass man die Bonner Demonstration heute vermutlich als Zeugnis für eine  „Polarisierung“ des Landes, jedenfalls nicht als Zeichen seiner Selbstsolidarisierung lesen würde.

Am ehesten trägt wohl noch die Analogie zu den Lichterketten, wenn auch nicht sehr weit. Offenkundig sind die „Remigrationspläne“ eines Zirkels von Rechtsradikalen in diesen Tagen der Anlass für viele Deutsche, ein als überfällig empfundenes Zeichen gegen die AfD zu setzen: Bis hierher und nicht weiter! Aber während die Demonstrationen 1992 von emotionaler Spontaneität geprägt waren (Trauer, Scham, Entsetzen, Mitgefühl) im sicheren Vertrauen auf demokratische Grundwerte, so sind sie heute von kognitiver Spontaneität geprägt, genauer: von der politischen Sorge, die Fundamente des demokratischen Zusammenlebens selbst stünden mit ausländerfeindlichen Parolen auf dem Spiel.

Was bleibt von den Demonstrationen?

Nur noch komödiantisch zu verstehen sind die „historischen“ Interpretationen der Massenproteste und ihrer Ursachen seitens der AfD. Bundessprecherin Alice Weidel, eine Virtuosin des schrägen Geschichtsvergleichs im Dienst der autopropagandistischen Hirnabschaltung, sieht nach Habecks „Heizungsstasi“ nun „stasiähnliche Zersetzungsmethoden“ am Werk, weil selbst sie nicht mehr leugnen kann, dass den Tatsachen entspricht, was Journalisten von Correctiv aus Potsdam zu berichten wussten: If you can’t kill the news – kill the messenger…  Und Chefdemagoge Björn Höcke? War auch schon mal besser in Form. Er sieht vom totalen Staat „gestellte Massen“ aufmarschieren und beobachtet, dass das Volk „Taschenlampen, also Handy-Leuchten in den Himmel gehalten“ habe – „es sah so ein bisschen aus wie 1933 die Fackelmärsche der Nazis“. Das lässt nur einen Schluss zu: Die Demos haben Höcke ausgesprochen gut gefallen.

Was also steckt hinter den Demonstrationen, was bleibt von ihnen – und womit ist mit Blick auf die Europa- und Landtagswahlen in diesem Jahr zu rechnen? Die Antworten auf diese Fragen sollten fürs Erste sehr prosaisch ausfallen und Poesievokabeln vermeiden: Hier wächst keine solidarische Gesellschaft heran, hier entsteht keine soziale Bewegung, die sich auf gemeinsame politische Ziele verpflichtete und Vorstellungen von einem „guten Leben“ teilte; hier schließt kein Volk die Reihen, um sich hinter einem politischen Projekt zu versammeln. 

Was die Menschen eint, ist allein der Wille, sich ihr Recht auf Individualität und Anderssein zu erhalten. Die Menschen stehen auf. Aber sie stehen nicht auf etwas, nicht für etwas – es sei denn: für ihr Nebeneinander. Linke, Grüne, Liberale und Konservative, Alte und Junge, Großstädter und Kleinstädter gehen auf die Straße, nicht Hand in Hand, aber Seit‘ an Seit‘ – und das ist viel, sehr viel, denn die Menschen demonstrieren exakt damit das Wesensmerkmal der modernen, liberalen Gesellschaft. 

von Max Biederbeck, Max Haerder

Diese moderne, liberale Gesellschaft zeichnet sich im Geschäftsalltag, also abseits der Familie und Freunde, durch ein schwachtolerantes Gewährenlassen und den Ausschluss unerwünschter Zwischenmenschlichkeiten aus, die über den Austausch von Höflichkeitsformeln und Rücksichtnahmen hinausgehen: Jeder geht seiner Wege, jeder nach seiner Facon. Konstitutiv für die liberale Gesellschaft ist die Pluralität der Lebensstile, der Mangel an Verbindlichkeit – die Freiheit, sich im Rechtsrahmen des Grundgesetzes seine Wahlidentitäten ausbilden zu können, sich nur Wunschgemeinschaften zugehörig fühlen zu müssen.

Gerade weil Menschen „jeglicher Couleur“ an ihnen teilnehmen, sind die Demonstrationen daher so wertvoll. Die Menschen zeigen auf das wunderbare Paradox der liberalen Gesellschaft: Sie garantiert ihr unverbundenes Miteinander und ihr verbindliches Nebeneinander. Es ist schädlich, abstoßend und politisch peinlich unreif, wenn auch nur eine Randnotiz, dass einige Organisatorinnen und Organisatoren Mitglieder der Union oder Freien Wähler nicht auf den Demonstrationen sehen wollen.

Was für ein Kolossalblödsinn! 

Die Menschen selbst sind, abgesehen von stark vereinzelten Aiwangern, klug (und liberal) genug, um sich nicht von der parteiübergreifenden Bestätigung ihrer Selbstwirksamkeit abhalten zu lassen. Und die meisten werden wissen, dass das politische Denunziationsbingo der Linken („Faschisten“, „Nazis“, „Rechtsextreme“, „Rechte“) nicht nur unterkomplex ist, sondern auch und abermals eine Variante des hirnlosen Geschichtsmissbrauchs: Die Begriffe, wahllos verstreut über Putin, Trump, Meloni, Orban, Höcke, Maaßen, überstrapaziert und gedehnt, um möglichst auch noch Merz zu treffen, irgendwie – diese Begriffe sind vor dem monströsen Hintergrund der Nazi-Verbrechen und dem historischen Phänomen des Faschismus Anfang des 20. Jahrhunderts so fahl, hohl und „Thema verfehlt“ wie der ständige Verweis auf Weimar: Was für ein Kolossalblödsinn! 

Ein Aufstand der Anständigen also, fürwahr, insofern damit der Respekt vor der Freiheit in ihrer elementarsten Form gemeint ist: Jeder ist in seiner Freiheit nur so frei, wie er die Freiheit seines Nächsten achtet, anders frei zu sein. Die Demonstrationen sind ein wichtiges Spontansignal vieler Deutscher an sich selbst: Wir sind die Mehrheit. Wie stehen auf dem Boden des Grundgesetzes. Wir achten die Demokratie, die Freiheit, die Menschenwürde. Wir mögen das Miteinander – und anerkennen uns in unserer Verschiedenheit. 

Es ist nicht vermessen, damit zu rechnen, dass dieses Signal auch in der politischen Nahkampfarena als Aufruf zur rhetorischen Mäßigung nach innen, also in Richtung demokratische Mitte, verstanden wird. Die Union dürfte in den nächsten Monaten weniger gegen linksgrün södern und sich wieder stärker nach Rechtsaußen abmerzen: Die AfD ist in den nächsten Monaten der „Hauptgegner“, ja, was denn sonst; dieser fundamentale „Shift“ im politischen Debattenraum ist mindestens wahrscheinlich.

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Wünschbar, wenn auch nicht wahrscheinlich ist, dass die demokratische Mitte von Links bis freie Wähler zu einer Art gelassenen Entschlossenheit im Umgang mit der AfD findet und sich konsequent die Frage vorenthält, was und warum dies oder jenes der AfD womöglich nützt oder nicht. Die Enthüllung der Remigrationspläne und die Demonstrationen könnten womöglich einen Solidarisierungseffekt unter AfD-Anhängern auslösen? Who cares? Sollten die Demonstrationen deshalb etwa nicht stattfinden? 

Tatsächlich nützen der AfD nur zwei Dinge: Die permanente Denunziation und Abschiebung derer, die angeblich „rechts“, „rechtskonservativ“ und „erzkonservativ“ sind ins Lager der „Restaurativen“, „Autoritativen“, „Rechtsextremen“ und „Rechtsradikalen“ – und die einem erstaunlichen Mangel am Willen zur genauen Gegenwartsanalyse entspringende (un-)historische Verschlagwortung politischer Phänomene, um sich selbst auf der „richtigen Seite“ zu wähnen.

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Die AfD verzeichnet nach den Correctiv-Recherchen und den Demonstrationen einen starken Mitgliederzuwachs, heißt es. Die AfD sackt in den Umfragen vorerst nicht in sich zusammen. Aber es braucht weder ihr Verbot noch den Entzug ihrer Finanzierung noch das Aberkennen der Bürgerrechte einzelner Mitglieder – und es braucht schon gar keine ausgedehnte politische Diskussion darüber. Die „wehrhafte Demokratie“ ist die Demokratie wehrhafter Institutionen und wehrhafter Bürger. Sie lebt einerseits von der Funktionsfähigkeit ihrer Organe (alles in Ordnung soweit), und andererseits, als liberale Demokratie, bekanntlich von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Die Demonstranten haben sich dieser Voraussetzungen vergewissert. Bleibt es dabei, nimmt die spontane Selbst-Vergewisserung von Demokraten wieder die Form eines jederzeit abrufbaren demokratischen Selbst-Bewusstseins an, muss einem um Deutschland nicht bange werden.

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