Wirtschaft von oben #219 – Müllberge aus Kleidung Auf diesen Halden in Ghana und Chile landet die Ultra-Fast-Fashion

In Alto Hospicio mitten in der chilenischen Atacama-Wüste gibt es gleich an mehreren Stellen Berge aus weggeschmissenen Klamotten. Viele davon kommen aus Europa hierher. Quelle: LiveEO/Google Earth

Wegwerfmode von Onlinehändlern wie Shein und Temu gelangt aus Europa und den USA tonnenweise auf riesige Müllhalden in der Atacama-Wüste und in einen Fluss in Accra. Das belegen exklusive Satellitenbilder. Was für die einen Müll ist, ist für die anderen Ware – um zu überleben. Wirtschaft von oben ist eine Kooperation mit LiveEO.

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Die Korle-Lagune schlängelt sich an der ghanaischen Hauptstadt Accra entlang, westlich des Stadtzentrums, bis sie in den Golf von Guinea mündet. Lagune, das klingt nach seichtem und türkisfarbenem Gewässer, nach Korallen und Naturschönheit. Lagune klingt nach Paradies. Die Korle-Lagune ist heute das Gegenteil davon. Hier schwimmen mittlerweile tonnenweise Kleiderabfälle im Wasser, verstopfen Inseln stinkender Lappen und Plastikfetzen die Ufer. Es sind Alttextilien, getragene Hosen, Jacken, Blusen, T-Shirts, Socken und Schuhe, mit der Zeit zerronnen zu undefinierbaren Müllhaufen und Inseln.

Ghana zählt weltweit zu den größten Importeuren von Altkleidern. Laut der Beobachtungsstelle für wirtschaftliche Komplexität „OEC World“, einer US-Plattform zur Visualisierung von Daten, hat Ghana 2021 Altkleider im Wert von 214 Millionen US-Dollar importiert. Die größten Altkleider-Exporteure nach Ghana waren mit einem Anteil von 38 Prozent die frühere Kolonialmacht Großbritannien und China (23 Prozent). Aus Deutschland kamen vier Prozent der Klamotten.

Rund um den Import ist in Accra eine relevante Industrie entstanden. Deren Ziel ist es selbstverständlich nicht, die Altkleider in die Korle-Lagune zu schmeißen, sondern sie zu verkaufen. Aber wie man auf den Satellitenfotos von LiveEO eindrucksvoll erkennen kann, wachsen die Textil-Müllberge im Gewässer stetig an. Das kann zweierlei bedeuten: Ghana importiert mehr Altkleider – oder der Anteil der Altkleider, die man nicht mehr verkaufen kann, steigt.


Beides stimmt.

Die getragenen Klamotten erreichen Ghana in großen Frachtcontainern über den Hafen von Tema, rund 25 Kilometer östlich von Accra. Per Lastwagen werden die Container auf den Kantamanto-Markt transportiert. Der Markt liegt im Stadtzentrum, rund zwei Kilometer östlich des Ufers der Korle-Lagune, und ist der größte Textil-Umschlagplatz des Landes – und einer der größten Westafrikas.

Geschätzt 70 Prozent aller Secondhand-Textilien, die Ghana erreichen, landen hier. Auch die wachsende Bedeutung des Marktes lässt sich anhand der Satellitenbilder nachvollziehen. Die Schätzungen über die jährliche Menge an Kleidungsstücken reichen von 40.000 bis 170.000 Tonnen. Nach Auskunft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) umfasst allein der Einzelhandelsbereich des Kantamanto-Marktes heute rund 5000 Geschäfte, in denen etwa 30.000 Menschen arbeiten. Es sind Händler, Schneider, Wäscher, Färber, Logistiker und Transporteure.


Am Markt angekommen, werden die Container geleert. Die Alttextilien sind in Form von Ballen gestapelt, jeweils zwischen 50 und 100 Kilo schwer. Großhändler verkaufen diese Ballen an Zwischen- und Unterhändler. Die Käufer zahlen blind, erst nach dem Kauf können sie die Qualität der Waren in Augenschein nehmen. Dann beginnt das große Sortieren. Nach Auskunft einer BMZ-Sprecherin sortieren die Händler auf dem Markt ihre Ware in drei Kategorien: direkt verkäuflich, reparaturfähig und schließlich: unverkäuflich.

Laut lokalen Schätzungen, teilt das BMZ mit, „sind bis zu 40 Prozent aller Secondhand-Textilien aufgrund von schlechter Qualität, Schimmel, Verunreinigungen oder mangelnder Eignung – zum Beispiel Winterware – unbrauchbar und werden als Abfall aussortiert“.

Die unverkäufliche Ware könnten die Händler theoretisch auch auf dem Markt deponieren – allerdings gegen eine Gebühr. Doch diese Möglichkeit ziehen die Marktteilnehmer wohl nur hypothetisch in Betracht – stattdessen werden die Stoffe einfach neben den Markt geworfen und landen auf der Straße, auf gewachsenen Deponien, am Strand und schließlich in die Lagune. Rinder staksen auf der Mülllandschaft umher, Vögel kreisen, suchen darin nach Brauchbarem. Am Strand ist gar ein etwa zehn Meter hoher Hügel gewachsen, nur aus Altkleidern. „Neben der Deponierung ist das Verbrennen nach der lokalen Sortierung gängige Praktik“, heißt es vom BMZ.

Die globale Textilproduktion wächst seit Jahren stark, seit noch nicht allzu langer Zeit aber eine bestimmte Art besonders: sogenannte Ultra-Fast-Fashion. Kleidung, mit der die Modeketten sehr schnell auf aktuelle Trends reagieren, binnen Tagen produziert und zu derart niedrigen Preisen angeboten wird, dass Kunden einfach zuschlagen, quasi im Affekt. Ein Kleid für acht Euro, ein Top für sieben, Schuhe für zwölf.

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Der Name Ultra-Fast-Fashion ist angelehnt an die Fast-Fashion-Erfinder Primark, H&M und Zara – bloß sind die heute im Vergleich geradezu langsam. Die größten und am schnellsten wachsenden Händler sind die chinesischen Plattformen Shein (2013 gegründet) und Temu (2022 gegründet).

Der Anteil der Kleider, die im Kantamanto-Markt in die ersten beiden Kategorien gehören, also direkt verkäuflich oder reparaturfähig, sei in den vergangenen Jahren kleiner geworden, sagt die zuständige Referatsleiterin im BMZ. Diese Entwicklung passt zum Aufstieg von Shein, Temu und Co. „Es kommen immer mehr Kleider an, die man nicht mehr weiterverkaufen kann: sogenannte Ultra-Fast-Fashion, die ohnehin nicht für den langen Gebrauch konzipiert ist“, so die Referatsleiterin. Diese Art der Einmal-Textilien besteht hauptsächlich aus synthetischen Fasergemischen, wie Greenpeace herausfand; die darin enthaltenen Chemikalien sind besonders schlecht für die Umwelt und lassen sich auch nur schwer recyceln.

Immerhin scheint Deutschland auf einem Weg der Besserung zu sein: Die Exporte Richtung Ghana von „Altwaren aus Spinnstoffen“, so der Behördentitel, gehen langsam zurück. Im vergangenen Jahr verschickte Deutschland rund 5500 Tonnen Altkleider nach Ghana – der niedrigste Wert seit mindestens zehn Jahren. Allerdings gibt es bislang keine eindeutigen Analysen dazu, um welche Art von Alttextilien es sich genau handelt.


Alttextilien landen auch in Chile in Tausenden von Tonnen. Chile ist in Lateinamerika der größte Importeur. Satellitenfotos aus Alto Hospicio nahe der Hafenstadt Iquique und mitten in der Atacama-Wüste zeigen an vielen Orten riesige Müllberge, zu erkennen an hell-dunklen Flecken auf dem staubigen Boden. Dunkel sind die Flecken oft auch deshalb, weil sich die Kleidung oder auch alte Reifen am Wegesrand in der Wüstenhitze selbst entzünden.

Es ist Kleidung, etwa in China oder Bangladesch produziert, in Europa oder den USA billig verkauft, wenig getragen, die dann nach Chile verschifft und in der Wüste weggeschmissen wird. Für die Erstkonsumenten auf der Nordhalbkugel ist es Müll, für einige in Alto Hospicio aber nach wie vor Ware. Dort gibt es Menschen, die davon leben, diese Reste wieder zu verkaufen. Die Ankäufer nehmen die Ware von den Müllhalden mit und verkaufen sie anderswo wieder. Auch in Alto Hospicio gibt es einen Secondhand-Markt. T-Shirts kosten manchmal nur zehn Cent.


Am anderen Ende der Welt, in der Königlichen Oper in Kopenhagen, fand im Juni der jährliche Nachhaltigkeits-Branchentreff der Modeindustrie statt: der Global Fashion Summit. Vor Ort war auch Liz Ricketts, Mitbegründerin der gemeinnützigen Organisation „Or Foundation“ aus Accra, die Frauen auf dem Kantamanto-Markt unterstützt. Ricketts berichtete auf dem Gipfel in Kopenhagen von einer Finanzspritze für ihre Organisation in Höhe von 15 Millionen Dollar über drei Jahre. Doch die Reaktionen im Saal waren gemischt bis irritiert. Denn der Geldgeber der „Or Foundation“ ist: Shein.

Transparenzhinweis: Dieser Artikel erschien erstmals im Juli 2023. Wir zeigen ihn aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.

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