Tauchsieder
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Wie umgehen mit China?

Der Angriff Irans auf Israel unterstreicht einmal mehr, dass Deutschland seine China-Politik schnell ändern muss. Olaf Scholz ist kein Chefmanager der Wirtschaftsnation, sondern politischer Risikomanager Europas.

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Die Welt hat sich natürlich weitergedreht seit November 2022. Die Fragen sind: Zu wessen Gunsten hat sie sich gedreht? Und: Ziehen wir die richtigen Konsequenzen daraus? Damals brach Olaf Scholz zum ersten Mal als deutscher Bundeskanzler nach China auf, als erster Staatschef aus dem Kreis der G7-Staaten nach der dekretierten (Schließung und) „Wiedereröffnung“ des Landes. Generalsekretär Xi Jinping hatte das Coronavirus erst rigoros bekämpft mit gnadenlosen Lockdowns und dann schnellschnell durchs Land rauschen lassen; ein paar (zehn?)tausend Tote soll es damals gegeben haben, je nun, Hauptsache, das Thema war endlich beerdigt – und Chinas Wirtschaft konnte wieder wachsen.

Das Kanzleramt und das Außenministerium stritten damals scharf um eine neue „China-Strategie“. Man war mächtig genervt voneinander. Team Scholz warf Team Annalena Baerbock vor, mit moralischer Zeigefingerei Richtung Peking das diplomatische Parkett zu zerkratzen; mit ihrem gesinnungsethischen Rigorismus zerreiße die Außenamtschefin lang gesponnene Gesprächsfäden. Team Baerbock wiederum schalt Team Scholz, dieselben Appeasement-Fehler zu wiederholen, die so genannten „Realpolitikern“ mit ihren hohlen „Wandel-durch-Handel“-Formeln schon gegenüber Russland unterlaufen waren: Wer bitte schön ist denn hier naiv?

Deutschland diskutierte damals außerdem, ob Scholz und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron nicht besser gemeinsam in Peking auftreten sollten, um ein Zeichen europäischer Einigkeit zu setzen. Heute erwartet niemand mehr eine deutsch-französische Initiative. Auch die Schärfe, mit der vor anderthalb Jahren darum gerungen wurde, ob etwa Komponenten des chinesischen Konzerns Huawei in deutschen Telekom-Netzen verbaut sein sollen oder der chinesische Staatskonzern Cosco am Hamburger Hafen beteiligt sein darf, wirken beinahe schon wieder auf der Zeit gefallen. Die Gemüter haben sich beruhigt. Muss ja irgendwie weitergehen. Back to business.

Mit einem Unternehmensbesuch beginnt Olaf Scholz seine dreitägige China-Reise. Das Programm des Bundeskanzlers wirkt nicht nur am ersten Tag wie eine große Charmeoffensive: Wirtschaft first, Bedenken second.
von Sonja Álvarez, Max Haerder

Back to business? Auf der politischen Agenda des Kanzlers stand im November 2022 der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und seine persönliche Angst vor einem Atomschlag Wladimir Putins – sie hat des Kanzlers Ukraine-Politik das gesamte erste Kriegsjahr regiert. Scholz feierte sich nach seinem Gespräch mit Generalsekretär Xi bekanntlich dafür, dass Putins politischer Premium-Partner sich in die „internationale Gemeinschaft“ einreihte, um „den Einsatz von und die Drohung mit Atomwaffen ab(zu)lehnen“ – ein Zugeständnis, das allerdings für Xi kein Zugeständnis war. Schließlich müsste Peking sich im Falle eines russischen Atomschlags von seinem „unverbrüchlichen Freund“ distanzieren, was den Interessen beider Länder zuwider liefe. Also bitte, Finger weg vom Atomknopf, Genosse Wladimir. Xi hat es vor einem Jahr noch einmal bekräftigt: keine kurzfristigen Scheinerfolge, Longue durée, darum geht’s Peking und Moskau, Putin und ihm – um den langfristigen Rückbau der Völker- und Menschenrechte, die geduldige Zersetzung der westlichen Suprematie und den sukzessiven Aufbau einer Weltordnung der militärisch beherrschten Einflusszonen und politökonomischen Tributbeziehungen.

China und Russland: der unverbrüchliche Pakt

Und in genau diese Richtung hat sich die Welt (weiter)gedreht seit November 2022. Damals durfte man noch zaghaft hoffen, dass China seine außenpolitische Doktrin der „Nichteinmischung“ in Rücksicht auf seine Reputation als non-interventionism-country im Globalen Süden zumindest zum Anschein nimmt, zwischen dem befreundeten Aggressor und einer angegriffenen Ukraine vermitteln zu wollen. Inzwischen ist klar: China steht unverbrüchlicher denn je an der Seite Russlands. Es unterstützt offenbar indirekt die Kriegswirtschaft des Kreml und hofiert die Mullahs in Iran, die Putin mit Drohnen versorgen und Israel vernichten wollen. Das Risiko, das vom Iran ausgeht, ist nicht erst seit den jüngsten Angriffen auf Israel offensichtlich.

Gemeinsam erhärten Peking und Moskau, wieder und wieder, die Präventivkriegsthesen des „Joint Statement“ aus dem Februar 2022. Man wirft der NATO „ideologized cold war approaches“ und die Zementierung von „closed bloc structures“ vor, um „unilateral military advantages“ zu erzielen – und um sich dagegen beizeiten „wehren“ zu können: So hat China die Freiheit Hongkongs erstickt. So verschiebt China  beinahe täglich rote Linien im Südchinesischen Meer. Und so bereitet China inzwischen schamlos die militärische Eroberung Taiwans vor.

Lesen Sie auch: Der Ökonom und China-Experte Jacob Gunter erklärt im Interview, wie trickreich China subventioniert und warum die Gefahr für die deutsche Wirtschaft und ihren Mittelstand immer größer wird

Und Scholz? Scheint sich die Welt einfach ein bisschen zurückdrehen zu wollen in die seligen Schröder- und Merkel-Jahre. Er scheint sich als eine Art Chefmanager der Wirtschaftsnation verstehen zu wollen und nimmt jetzt eine riesige Delegation von Spitzenmanagern – darunter Roland Busch (Siemens), Oliver Blume (VW), Ola Källenius (Mercedes), Oliver Zipse (BMW), Markus Kamith (BASF), Miguel Lopez (Thyssenkrupp) – mit an Bord, gerade so, als habe China nicht wirklich was zu tun mit der „Zeitenwende“, die Putin dem Westen seit mehr als zwei Jahren aufzwingt. Gerade so, als interessiere ihn die eigene China-Strategie nicht und das ganze Gerede vom „De-Risking“.

Siemens-Chef Roland Busch, Vorsitzender des Asien-Pazifik-Ausschusses, hat bereits vor anderthalb Jahren die Marschroute vorgegeben: „Wer mehr Wachstum in neuen, aufstrebenden Märkten will, muss das erst einmal durch profitables Wachstum in bestehenden Märkten erwirtschaften.“ Und offenbar ist sich der Kanzler mit den Bossen einig: Wir stellen das „erst einmal“ auf Dauer; „erst einmal“ bleibt alles wie es ist in China, solange, es eben geht: Noch hat China nicht Taiwan überfallen. Noch lässt sich Xis China nicht mit Putins Russland vergleichen.



Starkes China, abhängiger Westen

Das stimmt und ist falsch zugleich, weil beide Länder das überragende Ziel verfolgen, zu zerstören, was dem Westen (ideell) lieb und teuer ist und die Welt seit 1945 im Innersten zusammenhält: die widerspruchsvolle Gleichrangigkeit des Völkerrechts und der Menschenrechte. Und das ist realistisch und fahrlässig zugleich, weil die ökonomische Abhängigkeit von China inzwischen so groß ist, dass sich die Frage eines Sanktionsregimes wie gegen Russland im Fall der Fälle nicht stellt – aus einer Position der selbstinteressierten Schwäche heraus.

Generalsekretär Xi Jinping verfolgt einen klaren Plan: China soll die Wirtschaft dominieren, die Welt sich um Peking und Shanghai drehen. Satellitenbilder zeigen, für welche deutschen Branchen und Firmen es eng wird.
von Thomas Stölzel, Jannik Deters, Nele Antonia Höfler, Andreas Menn

Und diese Schwäche nimmt aus mindestens drei Gründen zu. Erstens, weil China sein eigenes „De-Risking“ seit Jahren konsequent vorbereitet, also seine Abhängigkeit von Handelspartnern reduziert, um die Abhängigkeit der Handelspartner zu maximieren. Beispiel Deutschland: China ist seit 2016 unser größter Geschäftspartner. Aber die Saldi von Exporten und Importen stürzten 2022 (minus 85,1 Milliarden) und 2023 (minus 59,4 Milliarden) förmlich ins Bodenlose – und die subventionierten Überkapazitäten der grünen Wirtschaft Chinas (Windräder und E-Autos) warten nur darauf, auf dem europäischen Markt Abnehmer zu finden.

Daraus könnte man zweitens schließen, dass China mehr denn je auf „den Handel und weltweite Kooperation“ (Roland Busch) angewiesen sei. Aber wer so etwas sagt, denkt mal wieder rein kaufmannslogisch, nicht geschichtlich-kulturell, der will vor allem sich selbst zu beruhigen und den laufenden Geschäftsbetrieb nicht zu stören, der bemäntelt seine betriebswirtschaftlichen Augenblicksinteressen mit der Doux-Commerce-These der Aufklärung, derzufolge der Handel die Völker der Welt einander näher bringt, sie zivilisiert und pazifiziert – der unterschlägt, dass Chinas Rational Nummer eins nicht „wirtschaftliche Prosperität“ sondern „nationale Größe“ ist, genauer: dass „wirtschaftliche Prosperität“ für China ein Mittel ist, das dem Zweck „nationale Größe“ dient – nicht umgekehrt.

Die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan ist in diesem Rational kein (ver-)handelbares Gut, sondern politisches Prärogativ. Und Xi kann sich ziemlich sicher darauf verlassen, dass seine Landsleute im Kriegsfall zu „Wohlstandsopfern“ bereit wären (sie notfalls auch durchsetzen). Und er kann dabei nicht nur auf die Größe des Binnenmarkts, sondern auch der Stabilität der Wachstumsmärkte (Asien, Lateinamerika, Afrika) und die (größere) Abhängigkeit Europas setzen: Der „Trade-off“ eines Sanktionswettlaufs wäre vor allem für Deutschland und Europa verheerend (Inflation!).

Und dieses Schwäche nimmt drittens zu, weil viele deutsche Konzerne trotz struktureller Benachteiligungen und erzwungenem Know-How-Transfer, trotz politischer Vorgaben und orchestrierter Kader-Kontrolle in ihren Betrieben  dazu übergegangen sind, ihre Strukturen in China zu duplizieren – offenbar ohne sich darum zu bekümmern, dass man mit der Autonomie regionaler Zentren (Forschung, Entwicklung, Produktion) Chinas Wirtschaftsstrategie der „zwei Kreisläufe“ in die Hände spielt, seine unternehmerische Autonomie aufs Spiel setzt – und an der Heimatfront volkswirtschaftliche Klumpenrisiken produziert.

Die Direktinvestitionen Deutschlands in China haben im vergangenen Jahr einen Rekordwert erreicht. Und nein, man könne „kein nennenswertes strukturelles De-Risking der deutschen Wirtschaft erkennen", meldete vor ein paar Tagen das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Schön und gut. Das ist betriebswirtschaftlich rational: Die deutschen Konzerne maximieren und privatisieren ihre Gewinne in China, solange wie möglich, und das dürfen sie, weil sie vor allem ihren Anteilseignern verpflichtet sind. Aber warum spielt die Politik da noch mit? Warum versteht sie sich noch immer als Türöffner und Markenbotschafter – obwohl die Konzerne die Risiken Deutschlands in China maximieren, obwohl die Deutschen ihre Verluste im Kriegsfall werden sozialisieren müssen? Das ist volkswirtschaftlich irrational.

Xi Jinping: mächtig wie Mao

Das alles und noch viel mehr sollten Scholz und die Manager in den nächsten Tagen immer im Hinterkopf haben: Xi hat das vom autoritativen Reformer Deng Xiaoping in den Achtzigerjahren etablierte Konzept der kollektiven Führung und permanenten Gremien-Beratschlagung seit 2013 außer Kraft gesetzt und sich zum autoritären Alleinherrscher aufgeschwungen. Seine Machtfülle ist nurmehr mit der von Mao Zedong vergleichbar. Und weil er meint, China habe „nach 100 Jahren der nationalen Demütigung“ endlich die Geschichte und die „Gerechtigkeit auf seiner Seite“, ruft er jetzt die KPCh zu den Waffen, um auf dem „Schlachtfeld“ den Kampf gegen den Westen um „die Menschenherzen und Massen“ für sich zu entscheiden. Treibt Xi diesen Kampf auf die Spitze? Was für eine Frage. China sucht keinen Premiumplatz in einer neuen Weltordnung nach dem „Washington Consensus“. China beansprucht ihn, findet ihn – und wird ihn sich nehmen.



Entsprechend groß sind die Risiken. Und sie wachsen mit Xi als „Supreme Leader“, der sich – ganz so wie Putin – zugleich als Volkserzieher und Geschichtsdeuter, Staatsphilosoph und Nationenbaumeister versteht. Der seine extensiven Sentenzen in den Rang verpflichtender Schullektüren und Volksbibeln erhebt. Der sich einspinnt in selbstlegitimatorische Weltbilder, die dem politischen Zentralgedanken des aufgeklärten Abendlands (Die Würde des Menschen stattet ihn mit „naturrechtlich“ angeborenen Freiheitsrechtes gegen den Staat aus) Hohn sprechen.

Xi schickt sich an, die globale Nachkriegsordnung der Vereinten Nationen einseitig aufzukündigen, indem er die konstitutive Gleichrangigkeit von Völkerrecht und Menschenrechten dementiert: Seine theoretischen Überlegungen sind längst tätige politische Praxis. Er schmiedet die historische Herabsetzung, koloniale Entwürdigung und kriegerische Vernichtung Chinas im 19. und 20. Jahrhundert in nationalstolze Hegemonialansprüche der Gegenwart um. Er weist alle Kritik an „Chinas Weg“ als (abermals) ungebetene Einmischung in innere Angelegenheiten, alle Verletzungen der Menschenrechte als illegitime Übergriffigkeit geschichtlich kompromittierter Westmächte zurück. Er inszeniert sich als intellektuelle Zentralfigur einer alternativen, globalen Ordnung souveräner Länder(chefs), als Leitstern einer „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“.

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