Standortdebatte Olaf Scholz, die Klagemauer

Die Stimmung zwischen Olaf Scholz und der Wirtschaft ist schlecht. Quelle: dpa

Der Kanzler trifft auf die Präsidenten der vier großen Wirtschaftsverbände. Die Stimmung ist so miserabel wie der Zustand der Konjunktur. Hat der Regierungschef die Kraft zu Reformen? Oder überhaupt den Willen dazu?

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Ein Restaurant in Berlin-Mitte. Zwischen Vorspeise und Hauptgericht serviert ein prominenter Unternehmer seine Wut. Auf dem wirtschaftspolitischen Lieferschein der Ampel stünde eigentlich: nichts. Substanzielle Politik für einen agileren Standort bleibe aus. Zuhören würde simuliert. „Da kommt einfach zu wenig.“ Und wenn doch mal was komme, dann vom „ideologischen Reißbrett“. Stattdessen müsse nun schleunigst die Wettbewerbsfähigkeit wieder ins Zentrum rücken, die Lust auf Arbeit – aber nein: vielmehr würde die Regierung die strukturelle deutsche Wachstumsschwäche zur konjunkturellen Delle kleinreden.

Na dann, guten Appetit. 

Was Olaf Scholz zu Ausbrüchen wie diesem zu sagen pflegt, ist bekannt: Das Lied des Kaufmanns ist die Klage. Der Kanzler hat diesen Spruch bereit zu Zeiten angebracht, als er noch Finanzminister war und schon damals gern mit seinem wissenden, spöttischen Lächeln garniert. Frei nach dem Motto: Lass‘ sie nur reden, haben ja doch alle keine Peilung.

Wobei – reden kann man das eben nicht mehr wirklich nennen. Der Ton zwischen Wirtschaft, Ökonomen und der Ampel, er wird im Jahr zwei der Stagnation harscher, bitterer, schärfer. Mittelständler und Familienunternehmer, jene also, die eher selten ins Kanzleramt gebeten und erst recht selten subventioniert werden, lassen schon länger ihrem kalten Zorn freien Lauf. Nun aber sind auch von Dax-Chefs oder Verbandsbossen wie BDI-Chef Siegfried Russwurm Sätze zur Ampel und zur wirtschaftspolitischen Kanzlerbilanz von Olaf Scholz zu vernehmen, die aufhorchen lassen: „Es waren zwei verlorene Jahre.“

Verlorene Jahre, das ist hart. Russwurm, ein ehemaliger Siemens-Topmanager, musste sich lange eher den Vorwurf gefallen lassen, insgesamt zu freundlich und nachsichtig mit der Ampel umzugehen – und nun das. Selbst seine Geduld ist offenbar am Ende. Denn auch wenn sich Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner zuletzt einen Überbietungswettbewerb in Sachen Konjunkturpanik lieferten, was bisher übrig bleibt ist die Tatsache, dass nichts übrig bleibt. Ob und wenn ja wie die Ampel der Wirtschaft auf die Sprünge helfen will, ist offen. Und halb Berlin fragt: Was will eigentlich der Kanzler? Oder sieht er das Problem überhaupt nicht?

Das Standort-Quartett gegen Scholz

An diesem Mittwoch wird er eine neue Gelegenheit bekommen, sich zu erklären. Scholz ist in Berlin zu Gast bei der Klausurtagung der vier Spitzenverbände der Wirtschaft. Aus Sicht von Russwurm, dem Arbeitgeberpräsidenten Rainer Dulger, Handwerksboss Jörg Dittrich und DIHK-Chef Peter Adrian kann es nur ein Thema geben: die Standortmisere.

Scholz weiß genau, was ihn dort erwartet. Schon Ende Januar hatten ihm die vier Verbandsgranden schließlich gemeinsam einen Brandbrief geschickt, der an Deutlichkeit und Dringlichkeit kaum zu überbieten war. „Mit großer Sorge beobachten wir die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, in der sich unser Land befindet“, stand darin. In ihrem gemeinsamen Appell forderte das Quartett endlich Reformen vom Kanzler: „Mit einem kräftigen Aufbruchssignal und langfristig verlässlichen, wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen kann und muss die Politik bei den Unternehmen wieder mehr Vertrauen aufbauen und Zuversicht für eine gelingende Transformation schaffen. Wir appellieren dringend an Sie und die gesamte Bundesregierung, jetzt Maßnahmen zu ergreifen, die einen wirtschaftlichen Aufbruch in unserem Land fördern.“ 

Konkret skizzierten die Verbände in einem dem Brief beigefügten Papier Maßnahmen in zehn Politikfeldern, von der Entbürokratisierung über Steuer- und Sozialstaatsreformen bis zur Fachkräftesicherung und günstigeren Strompreisen. Darin hieß es: „Zum großen Teil sind die Probleme am Wirtschaftsstandort Deutschland hausgemacht. Notwendige Strukturreformen sind in den zurückliegenden Jahren ausgeblieben.“ Diese Entwicklungen gingen „an den Kern des wirtschaftlichen Fundaments Deutschlands. Es braucht ein Umlenken“.

Deutschlands Wachstumsaussichten sind mies, doch Olaf Scholz kanzlert die Wirtschaft mit ihren Sorgen leichtfertig ab. Ein kohärenter Kurs der Koalition ist nicht in Sicht. Das ist fatal für den Standort. Ein Kommentar.
von Sonja Álvarez

Ein Umlenken also – aber wohin? Scholz verweist meist auf das Erreichte: das Einwanderungsgesetz, die Beschleunigungspakete, den Neustart der Energiewende. Robert Habeck will dennoch einen „Reformbooster“, Christian Lindner ein „Dynamisierungspaket“. Der FDP-Chef und seine Partei bringen überhaupt gerade im Tagestakt neue Vorschläge unter die Leute, den Soli-Abbau, zuletzt eine Agenda für Überstunden, die sich mehr lohnen sollen. Die Vertrauten der beidem Minister, das Staatssekretärsduo Anja Hajduk und Wolfgang Saebisch, tagen zum Thema Aufschwung auch regelmäßig (und sehr vertraulich) mit Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt. Zählbares ist dabei bisher allerdings nicht herausgekommen.

Die Familienunternehmer würden sich schon freuen, wenn sich die Koalition überhaupt einmal einigen würde auf eine gemeinsame wirtschaftspolitische Idee, die mehr bringt als die vergleichsweise mickrigen drei Milliarden Euro Entlastung aus dem so genannten Wachstumschancenpaket. „Wir machen uns ernsthaft Sorgen um den Standort“, sagt Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen. „Es reicht nicht, wenn wir die Weltmeister im Ankündigen sind.“ Sicherheit, Gesundheitsversorgung, soziale Teilhabe – all das könne doch nur finanziert werden, wenn die Wirtschaft floriere. Davon ist Deutschland weit entfernt mit seiner Wachstumsprognose von 0,1 Prozent für dieses Jahr. Wenn man das denn Wachstum nennen soll.

Muss erst ein Autokonzern kippen?!

Einiges sei den Altlasten geschuldet, für die die Ampel-Koalitionäre nichts könnten, sagt Moritz Schularick. „Wofür sie allerdings die Verantwortung tragen, ist die allgemeine wirtschaftspolitische Orientierungslosigkeit. Die Sehnsucht nach einem Befreiungsschlag ist immens.“ 

Schularick ist Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, selbst regelmäßig beratend in der Hauptstadt unterwegs, dennoch hält der Ökonom es „angesichts der vielen Tabus, die alle Koalitionspartner aufgestellt haben, für unwahrscheinlich, dass wir in den anderthalb Jahren bis zur Wahl noch eine große Reform erleben werden“. Er erkenne auch den dafür nötigen Führungsanspruch des Kanzlers nicht. 



Schularick will nicht fatalistisch klingen, aber er ist der Überzeugung, dass der Ampel ein Schockerlebnis wie vor der Agenda 2010 fehlt, um den Ernst der Lage zu erkennen. Denn anders als damals zeige sich der Arbeitsmarkt stabil. Erst „wenn einer der deutschen Autobauer in Schieflage geraten sollte, könnte das der Weckruf sein, den die Politik von heute benötigt“, sagt er. „Sie würde wohl dann erst unwiderruflich erkennen, dass wir nicht einfach mit dem alten Wirtschaftsmodell weitermachen können.“

An Vorschlägen für ein neues Modell mangelt es jedenfalls nicht - und viele davon sind in Wahrheit Reformklassiker. Ifo-Chef Clemens Fuest beispielsweise hat jüngst erst gemeinsam mit anderen führenden Wirtschaftsforschungsinstituten das Frühjahrsgutachten veröffentlicht, am Montag stellte er bei den Familienunternehmern ein neues Papier vor, in dem es um die Frage ging, wie Deutschlands Wohlstand gesichert werden kann. „Wenn andere Länder anfangen, sehr interventionistisch zu werden und Dinge zu tun, die sehr teuer sind, dann ist es noch lange nicht klug, das alles nachzumachen“, warnte Fuest. 

Ifo-Chef fordert Steuerentlastungen und Bürokratieabbau

Seine Alternative: die Investitionsanreize insgesamt stärken, schließlich habe Deutschland starke Hidden Champions – 1500 Unternehmen mit 1,2 Millionen Beschäftigten – die gerne expandieren würden: „Diesen Potenzialen muss man auch Raum geben“, forderte Fuest. Mehr Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, Entlastungen von Steuern und Bürokratie, Reformen im Abgabensystem, damit Erwerbsarbeit sich lohne, weniger kleinteilige und dirigistische Klima- und Umweltpolitik und nicht zuletzt ein Ausbau des Energieangebots in Deutschland. 

Kurz gesagt: Weniger industriepolitischen Lenkungsehrgeiz für einige wenige und fürs Schaufenster, stattdessen mehr ordnungspolitische Klarheit für alle.

Unterstützung bekommt Fuest von Gabriel Felbermayr, Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien: Das Ziel der Wirtschaftspolitik sollte nicht sein, „mit branchen- oder gar firmenspezifischen Subventionen eine künstliche Wettbewerbsfähigkeit in Sektoren herzustellen“. Es gehe vielmehr darum, die Technologieführerschaft in Sektoren mit komparativen Vorteilen zu behaupten und auszubauen. „Das gelingt am besten mit einer Stärkung der allgemeinen Standortqualität.“

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Als Olaf Scholz vor Kurzem auf der Konferenz "Europe 2024" von „WirtschaftsWoche“, „Handelsblatt“, „Tagesspiegel“ und „Zeit“ nach dem Standort und dessen Malaisen gefragt wird, klingt er allerdings so, also würde er schon die Prämisse dieser Vorwürfe nicht teilen. Die Formel vom kranken Mann müsse man doch einmal „entlarven“, antwortet er, Deutschland sei noch immer einer der größten und robustesten Volkswirtschaften der Erde.

Noch immer. Aber wie lange noch?

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