Tauchsieder
Quelle: AP

Wir bekommen nichts mehr erledigt

Der Westen wirtschaftet ab. Die USA drohen Russland das Feld in der Ukraine zu überlassen. Die EU kann nicht mal eine Munitionsfabrik bauen. Deutschland verwaltet seinen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit. Ein Abgesang.

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John McCain hat bereits vor knapp sieben Jahren, am 25. Juli 2017, die womöglich beste Rede zur Lage der US-Nation gehalten – und überhaupt zu den Binnenkrisen der liberalen Demokratien des Westens. „We are getting nothing done“, mahnte der schwer erkrankte Senator damals seine Parlamentskollegen.

Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, um Demokraten wie Republikaner darauf zu verpflichten, die übergeordneten Werte und Elementarinteressen der Nation niemals parteipolitischen Augenblickserfolgen zu opfern, niemals die Identität des Landes, seinen Fortschritt im Streit um das bessere Argument durch taktische Obstruktionslust und Konsensverweigerung zu gefährden, kurz: um seinen Worten das Gewicht eines Vermächtnisses zu verleihen, wiederholte McCain noch einmal, abweichend von seinem Manuskript, welchen Eindruck die gewählten Volksvertreter und Institutionen der Demokratie um den Erhalt ihrer selbst, der Demokratie, willen niemals erwecken dürfen bei ihren Bevölkerungen: „We are getting nothing done – Wir bekommen nichts mehr erledigt.“

John McCain wollte nicht aufrechnen, wer wann in der Vergangenheit auf Kosten des Landes nurmehr habe „gewinnen wollen um des Gewinnens willen“ – und den Historikern die Antwort auf die Frage überlassen, wer die größte Schuld am „Niedergang“ der politischen Debattenkultur trage, an der Schwächung eines gemeinsamen Verantwortungsgefühls für das Funktionieren der parlamentarischen Entscheidungsfindung: „I suspect we all conspired in our decline – either by deliberate actions or neglect.“

Der 80-jährige Veteran und ehemalige Präsidentschaftskandidat der Republikaner stellte bloß alarmiert und warnend fest, dass die Beratungen im US-Senat inzwischen „parteiischer“ und „stammesbezogener“ geführt würden „als zu jeder anderen Zeit, an die ich mich erinnern kann“.

McCain gab daher seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Politiker beider Parteien wieder einen Sinn für „inkrementellen Fortschritt“ entdecken, für „Kompromisse, die von beiden Seiten kritisiert aber auch akzeptiert werden“. Solche Einigungen würden sich „nicht wie ein politischer Triumph“ anfühlen, sagte er, seien aber „normalerweise das Beste, was wir von unserem Regierungssystem erwarten können“. Es gehe darum, dass „wir wieder Bescheidenheit lernen und einander zu vertrauen“, so McCain, „um den Menschen, die uns gewählt haben besser zu dienen“, und: „Hören Sie nicht länger auf die bombastischen Großmäuler im Radio, Fernsehen und Internet. Zur Hölle mit Ihnen. Sie wollen nicht, dass wir noch etwas erledigt bekommen zum Wohl unseres Landes: „Our incapacity is their livelihood.

John McCain wandte sich damals gegen den Furor vieler Republikaner, die Gesundheitsreform „Obamacare“ noch im ersten Amtsjahr von Donald Trump rückabzuwickeln. Er war kein Freund des Projekts, erkannte aber an, dass die USA seit Jahrzehnten das Problem der Gesundheitsversorgung ihrer Bürger nicht gut in den Griff bekamen. Deshalb gehe es jetzt nicht darum, den politischen Gegner zu besiegen, proklamierte McCain, sondern um „die Ausarbeitung einer überparteilichen Antwort auf ein nationales Problem“ – um eine Lösung, die „dazu beiträgt, das Leben der Menschen zu verbessern“.

Der Westen wirtschaftet ab

Getting things done – das sei schließlich der Kernauftrag von Politik, so McCain, der amerikanischen Politik zumal, auch international, auch der Anspruch der Welt an die USA: das leuchtende Beispiel einer internationalen Ordnung zu sein, die „die Menschheit von Tyrannei und Armut“ befreit: „Wir verstecken uns nicht hinter Mauern. Wir reißen sie ein. Wir sind ein Segen für die Menschheit.“

Gewiss, McCains „Manifest Destiny“-Pathos war schon damals von gestern, längst aus der Zeit gefallen (Vietnam, Irak, Afghanistan). Aber abgesehen davon durfte man seine Rede in den USA und in den liberalen Demokratien des Westens immerhin noch als Aufruf und Weckruf verstehen.

Heute kann man sie nurmehr als Nachruf lesen. Der Westen wirtschaftet ab, politisch, militärisch, institutionell, Europa, vor allem Deutschland, auch ökonomisch: Wir bekommen die entscheidenden Dinge nicht mehr erledigt. Die USA drohen Russland das Feld in der Ukraine zu überlassen, weil republikanische Trumpisten im Senat weitere Militärhilfen an die Durchsetzung sachfremder Anliegen (Mauerbau an der Grenze zu Mexiko) koppeln und den Wohlstand der Amerikaner gegen das Überleben der Ukrainer ausspielen. Die Europäische Union hat es in 24 Monaten nicht mal vermocht, auch nur eine einzige Munitionsfabrik zu bauen, um die ukrainischen Frontsoldaten in die Lage zu versetzen, ihre Linien zu halten.

Europa opfert die Ukraine seinem Gleichmut

US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz barmen bei republikanischen Kongressabgeordneten und europäischen Staatschefs um mehr Unterstützung für die Ukraine. Aber dabei geht es längst nicht mehr um das Ermöglichen militärischer Erfolge mit dem Ziel, die territoriale Einheit der Ukraine wiederherzustellen und einen belastbaren Frieden mit Russland auszuhandeln, sondern nur noch um das Verhindern eines militärischen Zusammenbruchs Kiews.

Bei einer Wahlkampfveranstaltung offenbart Donald Trump seine Bereitschaft, die Verteidigung nicht zahlender Nato-Partner aufzugeben – und Russland zur Aggression zu ermutigen. Das Weiße Haus reagierte umgehend.

Die Ukraine konnte diesen Krieg nie gewinnen, nicht mal auf ihrem eigenen Territorium, weil sie diesen Krieg nie gewinnen durfte – weil der Westen sich von Putin erst einschüchtern ließ, dann Putins Schwäche nicht schnell und entschieden nutzte, weil er zögerte und zauderte mit seinen Waffenlieferungen – weil es ihm immer nur darum ging, dass Putins Russland diesen Krieg nicht gewinnt, nicht wirklich gewinnt, irgendwie nicht gewinnt, ist nach dem Osten des Landes inzwischen wohl auch die Moral der ukrainischen Truppen zerstört. Es ist halt weder tapfer noch heroisch noch patriotisch, jeden Tag im Kugelhagel einer übermächtigen Artillerie zu stehen, sondern sinnlos, demütigend, entwürdigend. Die Ukraine opfert sich auf für Europa – Europa opfert die Ukraine seinem Gleichmut. 

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Am Ende dieses Krieges, es zeichnet sich bereits ab, werden sich die Regierenden des transatlantischen Westens eingestehen müssen: „We are getting nothing done.“ Es fehlt ihnen der lange Atem. Es fehlt ihnen der Geschichtssinn. Es fehlt ihnen die Fähigkeit, übergeordnete Werte und Elementarinteressen zu definieren – und an der politischen Durchhaltekraft, ihre Bevölkerungen hinter geostrategische Grundsatzentscheidungen zu versammeln.

Auch viele Unternehmen bekommen nicht mal das Mindeste hin im Hinblick auf die veränderten Grundlagen ihres Wirtschaftens. Konzerne, die es auch nach zwei Jahren Krieg noch nicht geschafft haben, ihr Geschäft in einem Land abzuwickeln, das Europa mit dem Atomtod droht, sind nicht nur moralisch bankrott, sondern auch Nieten der „wirtschaftlichen Freiheit“. Auch für sie gilt: „We are getting nothing done.“

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