Tauchsieder

Wir bekommen nichts mehr erledigt

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Wir verlassen uns auf die Protektion der USA

Andere schaffen Fakten, schreiben Geschichte, bekommen was erledigt – und sei es noch so übel. Putin hat sich vor zwei Jahren entschieden, Europa und den Deutschen ein Feind zu sein, das unterscheidet ihn fürs Erste von Chinas Generalsekretär Xi Jinping und vielen Scheichs, die auch nicht unsere Werte teilen. Man muss kein Ausnahmepolitiker, kein Moralphilosoph sein, um den Unterschied zu begreifen.

Und doch schaffen wir Europäer es nicht, Russland entschieden in den Arm zu fallen, Putin die Konsequenzen der eilig ausgerufenen „Zeitenwende“ spüren zu lassen – weil es uns wichtiger ist, sie uns selbst zu ersparen. Das Hemd sitzt uns näher als der Rock. Wir verlassen uns auf die Protektion der USA, statt die Schuldenbremse zu lösen. Die Stabilität der Lebensmittelpreise ist uns wichtiger als die Stabilisierung Osteuropas. Das Recht auf Viertagewoche und zweistellige Lohnzuwächse ist uns heiliger als die Freiheit der Esten, Letten, Litauer.

Es fällt inzwischen schwer, mit Blick auf den innenpolitischen Kleinmut und bei der Beschreibung einer Außenpolitik des faktischen Appeasements, des geschäftigen Geschehenlassens und des realitätsfernen Festhaltens an diplomatischen Kaufmannslogiken auf Vokabeln wie „decline“, „decay“ und „Dekadenz“ zu verzichten. „History is watching“, sagt US-Präsident Joe Biden, wohl wahr: Wir dürfen die Ukraine nicht in die Hände Russlands fallen lassen, denn fällt die Ukraine in die Hände Russlands, dürfte Putin sich ermuntert fühlen, auch Moldawien und die baltischen Staaten anzugreifen, den Kontinent wieder in Interessensphären einzuteilen, souveräne Staaten zum Spielball seiner postzaristischen Großmannssucht zu degradieren.

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von Sonja Álvarez

Und was tun wir? Wir sehen der Geschichte dabei zu, wie sie über unsere Köpfe hinwegzieht, wie die Zuschauer eines Stadionspektakels: watching history, nicht teilnahmslos, aber unbeteiligt – wenn man mal absieht vom selbsterbaulichen „support“ für die blaugelben Außenseiter.

Zwei Tankrabatte für Europas Sicherheit

Bis heute hat niemand, nicht der Bundespräsident, nicht der Bundeskanzler, weder der Wirtschaftsminister, der Finanzminister noch der Oppositionsführer, es für nötig befunden, den Deutschen zu erklären, dass die Kosten unserer Sicherheit seit dem 24. Februar 2022 sprunghaft gestiegen sind und dass sie im Herbst, bei einem Wahlsieg Donald Trumps, womöglich explodieren; dass die Verteidigung der Freiheit Kapazitäten und Ressourcen bindet und notwendig unseren konsumbestimmten Wohlstand schmälert: Pflugscharen zu Schwertern. Auch deshalb, weil niemand den Deutschen die Kosten der „Zeitenwende“, das Ausbleiben der „Friedensdividende“ auseinandersetzt, muss der Kanzler die acht Milliarden Euro, die Deutschland der Ukraine 2024 zur Verfügung stellen will, bereits als eine Art finanzielle Obergrenze markieren: Mehr ist den Deutschen nicht zumutbar. Acht Milliarden. Zwei Tankrabatte für Europas Sicherheit. That‘s all we‘re getting done.



Wer den Deutschen die stark steigenden Kosten ihrer Sicherheit verschweigt, ihnen statt dessen eine Expansion ihres Wohlstandsniveaus, gar ein Wirtschaftswunder verspricht, noch dazu angesichts einer Energiewende, die ebenfalls Ressourcen bindet, obwohl wir mit ihr nur die Antriebskräfte für die Restwirtschaft teuer umstellen, nicht erhöhen – der darf sich über politische Selbstblockaden und Nullwachstum, ein Nachlassen der Wettbewerbsfähigkeit des Landes und den Aufstieg des Rechtspopulismus nicht wundern. Ohne die Priorisierung politischer Ziele und die Kommunikation eines Purpose (von mir aus: „Sicherheit und Freiheitsenergien“) können Wohlstandsverluste, gerade weil die Regierung sie nicht anspricht, wohl aber aufzufangen verspricht, nur ein Konjunkturprogramm für politische Randverstärker sein: Es fällt den Weidels, Maaßens und Wagenknechts auch deshalb leicht in diesen Wochen, den Eindruck zu erwecken, dass wir Deutschen „nichts wirklich mehr erledigt bekommen“ – weil es so ist.

Priorisierung, das hieße etwa: Wenn wir der Auffassung sind, Russland bedroht die Sicherheit Deutschlands in Europa, dann müssen wir auch unsere Militärausgaben auf drei Prozent des BIP erhöhen – wie sonst sollten wir schon bald glaubhaft „Sicherheitsgarantien“ für die Ukraine aussprechen wollen? Dann braucht es eine Erhöhung des Sondervermögens zur Ertüchtigung unserer Bundeswehr und Investitionsgarantien für europäische Rüstungshersteller.

Keine faulen Kompromisse mehr

Und wenn wir zugleich die Energiewende meistern, unsere Infrastruktur reparieren, unsere Schulen erneuern und unsere Wirtschaft aus der Abhängigkeit von China befreien wollen, dann braucht es dazu außerdem nicht nur eine Lockerung der Schuldenbremse, sondern vor allem eine Behebung des Fachkräftemangels: mehr Frauen und Rentner im Beruf, mehr Kitaplätze, mehr gesteuerte Zuwanderung, mehr Bildungshunger, mehr Arbeitsstunden und mehr privates Kapital, um Kapazitätsengpässe aufzulösen – zugleich weniger Vorgaben, weniger Steuern, weniger Bürokratie, weniger Frühverrentungsanreize und kürzere Aufenthalte in unseren Sozialversicherungssystemen.

Priorisierung, das hieße auch: Schwerpunkte setzen statt faule Kompromisse schließen, Leitideen entwickeln – und die Gegenwart und Zukunft nicht permanent versuchen, mit dem gedanklichen Saatgut der Vergangenheit zu düngen. Was nutzt uns „Technologieoffenheit“, wenn nicht VW, sondern BYD die Welt mit E-Autos versorgt? Was bilden wir uns auf unsere „Marktwirtschaft“ ein, wenn wir die Subventionsoffensiven in den USA und China am Ende doch mit eigenen Förderprogrammen beantworten müssen? Warum unterwerfen wir uns dem Diktat einer „Schuldenbremse“ – und unterlaufen es zugleich mit „Sondervermögen“? Weshalb stellen wir fest, dass Unternehmen vor allem wegen hoher Energiepreise das Weite suchen – um sie weder durch die Zuschaltung von Atomkraftwerken noch durch Industriestrompreise im Land zu halten?

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von Horst von Buttlar

Kurzum: Unsere Wirtschaftspolitik ist rettungslos old-school – und zwar in dem Sinne, wie die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer es neulich formuliert hat: Wir denken „viel darüber nach, wie wir die Industrie in ihrer bestehenden Form erhalten. Und viel zu wenig über den Push nach vorne.“ Deshalb starten wir nicht mit der Produktion von E-Autos durch: weil wir mit E-Fuels die Substanz der Verbrennerindustrie absichern wollen. Deshalb führen wir nur zaghaft CO2-Preise ein: weil wir lieber dem guten, alten Ordnungsrecht vertrauen. Deshalb halten wir an der Schuldenregel fest: weil wir der Planbarkeit für den Staat traditionell einen höheren Stellenwert einräumen als verlässlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen. Deshalb gibt es immer noch zu wenige Kitaplätze und keine Kopplung der Rentenbezüge an die Entwicklung des Lebensalters: weil wir keinen Push wollen, uns lieber an alte Rollenbilder und demografische Illusionen verschwenden.

Verzicht kann sich lohnen

Was es jetzt braucht? Eine Politik, die auf der Basis weniger Prämissen agiert. Die sich von der Einsicht in elementare Grundbedingungen unseres Wohlstandes – Sicherheit, Systemwettbewerb, Fachkräfte, Innovationslust – leiten lässt und eine Mentalität der Risikovermeidung als Elementarrisiko anerkennt. Eine Politik, die nur einige wenige Prioritäten setzt und ihre Einzelmaßnahmen konsequent aus ihnen ableitet. Die ihren normativen Rahmen absteckt und ihre Beschlüsse daran bemisst, nicht aus diesem Rahmen zu fallen. Nur wer auf alles Mögliche verzichtet, kann auch etwas Bestimmtes erreichen. Nur wer Grundsätzen folgt, kann glaubhaft bestimmen, was kann, aber nicht muss – und die Menschen davon überzeugen, dass Verzicht sich auch lohnen kann. Nur wer seine übergeordneten Ziele kennt, „bekommt Dinge erledigt“.

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Die Grünen haben es mit der Priorisierung der Klimapolitik immerhin versucht – eine zum Scheitern verurteilte Probe aufs Exempel, weil die Reichweite nationaler klimapolitischer Entscheidungen zu gering ist, um die Verluste an internationaler Wettbewerbsfähigkeit auch nur annähernd aufwiegen zu können. Aber was spricht gegen die Formel „Die Freiheit und den Wohlstand sichern“? Dass beides nicht umsonst zu haben ist, dürfte (fast) jedem Deutschen einleuchten. Und wer die Formel politisch beim Wort nähme, der könnte gar nicht anders – der fühlte sich gezwungen, in diesen historisch bedeutsamen Monaten und Jahren aller Parteitaktik zu entsagen, sein ökonomisches Traditionswissen und seine politischen Denkmuster zu hinterfragen – und einen Push zu wagen. Damit Deutschland endlich wieder „ein paar Dinge erledigt bekommt“.

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