Neulich habe ich in unserer Sendung meinen Studiogast fast gefragt, ob wir während unseres Live-Talks gemeinsam mit einem Glas Sekt anstoßen wollen. Es war keiner im Kühlschrank. Aber mir war danach. Denn es gab eine Revolution zu feiern! Die Frau war Leiterin einer mittelgroßen Seniorenpflegeeinrichtung im Ostwestfälischen. Und hat mir berichtet: Die nutzen dort jetzt eine App mit einer künstlichen Intelligenz, die den Pflegefachleuten die Arbeit mit der Bürokratie fast komplett abnimmt.
Während bislang Stunden über Stunden täglich in der Pflege mit dem Ausfüllen von Dokumentationsformularen drauf geht (Dokumentation macht Sinn, aber doch bitte nicht so ausführlich umständlich), funktioniert das mit der App so: Noch während die Pflegekräfte mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeeinrichtung umgehen, sprechen sie die zu dokumentierenden Details in loser Folge einfach in die App auf ihrem Diensthandy.
Direkt im Wohnbereich der Leute oder im Gehen durch den Flur zum nächsten Klienten. Selbst grammatikalische Korrektheit ist nicht erforderlich, was ausländischen Mitarbeitenden zugute komme. Hinweise wie: „Frau Meyer 120 zu 80“ reichen aus. Die KI versteht, dass es sich dabei um den Blutdruck von Renate Meyer handelt und trägt es selber im richtigen Feld ein. Frei geschilderte Auffälligkeiten, Symptome und Maßnahmen werden sortiert, gegliedert und den richtigen Formularfeldern zugeteilt.
Dadurch spart die besagte Pflegeeinrichtung bei 100 Pflegeplätzen 2,5 Vollzeitstellen. Pro Tag. Diese gewonnene Arbeitskraft wird statt in Bürokratie in Gespräche, gemeinsame Spaziergänge oder Telefonate mit Angehörigen investiert. Es ist richtig viel gewonnene Zeit für das, was Pflege ausmacht.
So kann eine einzige App Pflege plötzlich fundamental verbessern. Für die Klienten und für die Pflegenden. Deren Beruf dadurch mit einem Schlag an Attraktivität gewinnt. Endlich! Das, was die Politik bis heute nicht vermocht hat, erledigt zu einem guten Teil einfach eine KI. Das meine ich mit Revolution. Und das zeigt auch, wie schwer es ist, die Chancen und Umbrüche, die wir immer neuerer KI verdanken werden, vorherzusehen. Und auch deren disruptive Kraft. Was kommt da?
Die Investmentbank Goldman Sachs schätzt auf Basis einer eigenen Studie, dass zwei Drittel der heutigen Arbeitsplätze durch KI-Automatisierung beeinflusst werden. Und dass bis zu einem Viertel der heutigen Arbeit durch KI ersetzt werde. Und der KI-Experte Hinrich Schütze von der LMU in München sagt: „Ganz viele Berufe werden wegfallen, wenn es einfach darum geht, Zusammenfassungen zu schreiben, Wissen zu sammeln und zu verdichten.“
1. Einige Jobs stehen schon jetzt auf der Kippe
Lohnt es sich heute noch, als junger Mensch Buchhalter zu werden? Schon Anfang vergangenen Jahres haben die Macher von ChatGPT selber prognostiziert: Berufe wie Buchhalter, Mathematiker, Programmierer, Dolmetscher, Schriftsteller und Journalisten würden schnell die Unterstützung von KI zu spüren bekommen. Diese Einschätzung war und ist freilich inspiriert dadurch, dass ChatGPT ein textbasiertes Tool ist. Aber gerade bei Fleißarbeits-Aufgaben wie dem Zusammenstellen von Sportergebnissen liefert Software schon heute nett lesbare Fließtexte, die auch Sie in Deutschland längst zu lesen kriegen.
Mittlerweile geht das Beben auch durch die Filmbranche. Weil Bild- und Sprach-KI so gewaltige Fortschritte macht. Hier heißt es, es werde als erstes die Synchronsprecher treffen. Denn KI kann heute nicht nur schon selber sprechen, sondern das auch im Duktus des Filmschauspielers. Und es ist sogar möglich, die Lippenbewegungen der Figuren an die neue Sprache anzupassen. Was den zusätzlichen Vorteil hat, dass etwa im Deutschen dann nicht – wie leider so oft – im kurzen Präteritum („Ich liebte dich“), sondern im Perfekt („Ich habe dich geliebt“) formuliert werden kann. So, wie wir eben reden.
Letztendlich stehen dem Ganzen noch der fehlende technische Feinschliff und Urheberechtsfragen entgegen: Erlaubt der Filmstar, dass seine Lippenbewegungen auf Deutsch und Dänisch angepasst werden? Und was, wenn es dann heißt: Wenn du nicht willst, bekommt jemand anderes die Rolle? Oder: Dann ersetzen wir deinen Part durch eine Vollkörperanimation?
Wenn ich mich mit Fernsehleuten unterhalte, heißt es: Alle reden drüber. Da steht ein Umbruch bevor. Weil es die internationalen Streaming-Dienste wohl bald angehen werden.
Und schon heute muss ein Synchronsprecher wegen eines einzelnen nachträglich neu zu vertonenden Wortes nicht mehr von Köln nach München fliegen. Eine KI springt ein. Die Erlaubnis des Sprechers vorausgesetzt. Noch.
2. Lohnt es sich noch, mehrere Fremdsprachen zu lernen?
Hier dürfte es bald so sein wie beim Möhrenanbau im eigenen Garten. Man muss es nicht tun, aber wenn es einem Spaß macht... Die Frage ist: Haben Jobs wie Fremdsprachenlehrer, Übersetzer und Dolmetscher eine Zukunft? Nach all dem, was ich lese und höre, glaube ich: nein, nicht mehr in der breiten Masse.
Schon heute gibt es erste Übersetzungs-Werkzeuge selbst auf handelsüblichen iPhones. Doch hier ist noch viel Text und das Display im Spiel. Was, wenn wir demnächst einfach die schallunterdrückenden Kopfhörer ins Ohr setzen, übers Mikro hört die KI uns und unserem Gegenüber zu und übersetzt im Tonfall und der Stimmlage des jeweils Anderen simultan? Von jedem Smartphone aus? In den ersten Jahren der Marktreife vielleicht noch ein bisschen holprig und mit Missverständnissen. Aber nun ja, wie viele Jahre müssten wir die jeweilige Fremdsprache lernen, um es ohne Holpern und Missverständnisse hinzubekommen? Fünf Jahre? Zehn? Pro Sprache!
Wenn alle mit Smartphone sofort die entsprechende App öffnen, um mit praktisch allen auf der Welt flüssig reden zu können. Kommt so etwas bald? Die bessere Frage lautet: Warum nicht?
Im Freundeskreis haben wir schon eine Wette laufen: Wird weltweites Sprechen das nächste große Ding auf den Smartphones? Ich sage ja. Und wenn ja: Wie sollen sich dann noch Abermillionen Menschen dazu motivieren, eine Fremdsprache zu lernen? Wir sehen es heute schon an denen, deren Muttersprache Englisch ist: wozu noch eine weitere Sprache lernen?
3. Was folgt daraus für unsere Bildung?
Wir wissen nicht, wo wir KI künftig noch überlegen sein werden. Vielleicht werden wir uns künftig auf das konzentrieren können, was uns am meisten Freude bereitet. So wie wir heute selber ins Kino fahren, statt jemanden zu schicken, der danach kurz berichtet, wie der Film ausgegangen ist. Weil es mehr Spaß macht, es selbst zu tun.
Es gibt niemanden, der das alles, was kommt, schon genau weiß, und ich weiß es schon gar nicht. Aber es liegt nahe: Das Einprägen von Wissen wird künftig weniger wichtig, weil Informationen erstens ständig überall verfügbar sein werden und zweitens: Weil künstliche Intelligenz sie selber recherchieren und (wenn wohl auch anfangs irgendwie begrenzt) interpretieren kann, um Schlussfolgerungen und Entscheidungen daraus abzuleiten.
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Das beinhaltet auch eine gewaltige Chance für uns. Wir können uns auf das konzentrieren, was uns stark macht: unsere Neugier und Kreativität. Beides ist in meiner Wahrnehmung in der Vergangenheit an Schulen und Unis zu kurz gekommen. Eher bringen wir unseren Kindern bei, „Der Prozess“ von Franz Kafka wie nach dem Lehrbuch anhand sämtlicher anerkannter Interpretationsansätze von psychologisch bis geschichtlich durchzudeklinieren, anstatt ihnen den Mut zu machen, selber kafkaesk zu schreiben.
Ich glaube, wir werden die Lehrpläne unserer Schulen komplett auf den Kopf stellen müssen. Sitzen da die richtigen Visionäre an den entsprechenden Knöpfen? Ist die Verwaltung in den Bildungsministerien heiß auf die neue Zukunft? Wenn ich mit Lehrern rede, heißt es meist: Alle müssen Rechtschreibung und Fremdsprachen lernen, allein weil das ein gutes Gehirntraining ist. Für die Synapsen.
Andererseits: Wenn Rechtschreibung und Fremdsprachenverständnis künftig (und teilweise schon heute) durch eine KI geliefert wird, sollten wir unsere Synapsen nicht mithilfe anderer Aufgaben bilden, die unsere Kreativität und Problemlösungskompetenz noch stärker fördern?
Schneller schlau: So lernen Maschinen das Denken
Mit Kameras, Mikrofonen und Sensoren erkunden die Maschinen ihre Umwelt. Sie speichern Bilder, Töne, Sprache, Lichtverhältnisse, Wetterbedingungen, erkennen Menschen und hören Anweisungen. Alles Voraussetzungen, um etwa ein Auto autonom zu steuern.
Neuronale Netze, eine Art Nachbau des menschlichen Gehirns, analysieren und bewerten die Informationen. Sie greifen dabei auf einen internen Wissensspeicher zurück, der Milliarden Daten enthält, etwa über Personen, Orte, Produkte, und der immer weiter aufgefüllt wird. Die Software ist darauf trainiert, selbstständig Muster und Zusammenhänge bis hin zu subtilsten Merkmalen zu erkennen und so der Welt um sie herum einen Sinn zuzuordnen. Der Autopilot eines selbstfahrenden Autos würde aus dem Auftauchen lauter gelber Streifen und orangefarbener Hütchen zum Beispiel schließen, dass der Wagen sich einer Baustelle nähert.
Ist das System zu einer abschließenden Bewertung gekommen, leitet es daraus Handlungen, Entscheidungen und Empfehlungen ab – es bremst etwa das Auto ab. Beim sogenannten Deep Learning, der fortschrittlichsten Anwendung künstlicher Intelligenz, fließen die Erfahrungen aus den eigenen Reaktionen zurück ins System. Es lernt zum Beispiel, dass es zu abrupt gebremst hat und wird dies beim nächsten Mal anpassen.
Einerseits bin ich aus der Erfahrung nicht sehr optimistisch, dass sich in den föderalen, mit Bürokratie vollgespachtelten Strukturen im Bildungswesen bald eine gigantische Aufbruchstimmung erzeugen lässt. Andererseits ist es wohl umso wichtiger, dass uns allen klar wird: Die Vorbereitung auf den Beruf ab Kindergarten und das lebenslange Lernen bis zur Rente und danach wird mit Sicherheit unter ganz anderen Vorzeichen ablaufen müssen als heute.
Wir müssen schnell sein. Am besten fangen wir jetzt sofort an, das Thema gesellschaftlich breit zu diskutieren. Um die gigantischen Chancen zu nutzen. Bevor es zu viele andere Nationen vor uns tun.
Was wollen wir lernen? Jeden Stein umdrehen. Wenn wir jetzt loslegen, könnte das die Chance sein, dass Deutschland in Sachen Bildung wieder vorne mitspielt. Und sogar Vorbild wird. Wir dürfen uns nicht abgewöhnen, das für möglich zu halten.
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